Rezension Rezension (5/5*) zu Widerfahrnis von Bodo Kirchhoff.

Atalante

Aktives Mitglied
20. März 2014
859
1.095
44
atalantes.de
Buchinformationen und Rezensionen zu Widerfahrnis von Bodo Kirchhoff
Kaufen >
Über Schuld und den Versuch der Erinnerung zu entfliehen

„Widerfahrnis“ ist mein erstes Buch von Bodo Kirchhoff und ich weiß gar nicht so recht, warum? Aber ich weiß nach der Lektüre, daß es nicht mein letztes sein wird.

Gewählt habe ich Kirchhoffs neuestes Werk nicht, weil er damit den Deutschen Buchpreis gewonnen hat, sondern weil mir die Leseprobe im zugehörigen Heft sehr gut gefiel. Zudem steht der Titel in zwei Diskussionsrunden auf dem Programm. Die eine findet virtuell bei Whatchareadin statt, die andere demnächst in unserem Literaturkreis.

Auch im vorliegenden Buch taucht eine solche Runde auf. Leonie Palm, eine der beiden Hauptfiguren, ist deren „treibende Kraft“. So bezeichnet sie jedenfalls Julius Reither, an dessen Tür Leonie eines Abends klopft. Der 70jährige hat vor kurzem seinen Verlag geschlossen und sich in ein nobles Apartment in den Bergen zurückgezogen. Hier lebt er in der Natur und in den Erinnerungen, die er redigiert wie einst als Lektor neue Texte. Ein schmerzhafter Prozess. Reither „dreht den Dorn in die Flasche“ und öffnet dadurch nicht nur den Wein, sondern markiert die einsetzende Erinnerung als Bohren in der Vergangenheit. Resignation und Selbstzweifel leiten die Korrektur, der Reither auch seine gesprochenen Sätze unterwirft. Dass ein Sprachmensch sein eigenes Sprechen kritisch überwacht, erscheint plausibel und wirkt stellenweise durchaus amüsant.

Gleich auf der ersten Seite vollführt Kirchhoff den Dreh in die Metaebene. Reither wirft dem Erzähler vor, seinen Namen viel zu früh einzuführen. Wenn kurz darauf sich auch die Palm auf dieses Spiel einlässt, ahnt der Leser, wie gut die Beiden zusammenpassen.

Dies wird den Hauptfiguren bald nach der Begegnung bewusst, wobei die Frau dem Mann immer einen Schritt voraus scheint. Während Julius Reither sich davon betören lässt, wie Leonie Palm Sommerkleid und Sandalen dem Schweizer Frühling entgegen setzt, will sie wissen, wie er ihr Buch findet. Ein Memoir, in dem sie den Selbstmord ihrer Tochter verarbeitet. Noch bleibt es beim Pseudonym, aber Reither ahnt, wer sich dahinter verbirgt.

Kirchhoff lässt die Liebesgeschichte schnell voran schreiten. Schon auf Seite 35 lesen wir „einen Herzschlag lang sah er sie an, das hieß, sie sahen sich an“. Ebenso rasch gelingt es ihm die Hauptmotive anzudeuten: Reithers an einer Abtreibung gescheiterte große Liebe, Palms Leiden am Suizid der Tochter und das Flüchtlingsdrama. Letzteres verkörpern zunächst die beiden Empfangsdamen der Wallberg-Apartments, die wirtschaftsflüchtige Bulgarin und Aster aus Eritrea. Mit feiner Ironie macht der Autor gerade diese beiden Geflüchteten zu Gehilfen bei der Flucht der frisch Verliebten.

Reither und die Palm, oder in diesem intimen Moment lieber Julius und Leonie, sind schon mittendrin und bereit miteinander weg zu fahren. „Über alle Berge, Leonie, das wollten sie doch.“ Die Fahrt führt nach Italien, ins Sehnsuchtsland. Leonie war noch nie dort. Sie weiß nicht, ob sie sich sehnt. Anders als Reithers Mutter, die dies erst kurz vor dem Tod verspürt, unerfüllbar.

Es gibt auch Menschen, für die ist Italien kein nach Zitronenblüten duftender Traum, sondern nur eine Etappe auf ihrer Flucht vor dem Tod. Diesen Flüchtenden begegnen die Fliehenden auf ihrer Reise. Besser, sie fahren an ihnen vorbei, lassen sie links liegen. Den Pulk an der Brennerbahn, die Großfamilie auf dem Parkplatz und später den Jungen im Olivenhain.

Dazwischen liegt eine lange Autofahrt mit wenigen Pausen und vielen Zigaretten, deren Rauchsignale das Sprechen ersetzen. Genug Raum um an die Menschen zu denken, „die es in unserem Leben nicht mehr gibt oder gab“. Miteinander zu reden misslingt, wenn Reither Leonie zu ihrer Geschichte befragt. Eine Annäherung gelingt dennoch über Gesten und Signale, die geliehene Jacke, eine gemeinsame Zahnpasta, eine Hand im Rücken. Reither fühlt, wie sein Kopf verdreht wird und kündigt doch mit einem amavero – ich werde geliebt haben- bereits das Ende dieses Gefühls an. Für ihn ist die Unternehmung mit dieser noch fremden Frau „eine Fahrt, in die Richtung, in die er nie mehr hatte fahren wollen“. Doch die Erinnerung kann nicht zerstört werden. Selbst ein zufällig geschossenes Foto erweist sich als präzise Replik eines längst vergangenen Augenblicks.

Als sie lange genug gefahren sind, um einander näher zu kommen, landen sie in Catania, nehmen dort ein Zimmer und begegnen einem Kind. Zunächst eine Erscheinung, die genährt von Erinnerungen immer präsenter wird und sich schließlich zwischen sie stellt. Ist es Leonies Barmherzigkeit oder Reithers Hartherzigkeit, an der diese Liebe scheitert? Diese Frage nach Schuld stellt die Novelle vielfach.

Ist Reither schuld an der Abtreibung?

Trägt die Palm Schuld am Selbstmord ihrer Tochter?

Hat Reither durch sein Winken das Mädchen ermuntert?

Verschuldet Reither den Tumult im Auto? Die Palm, weil sie keine Konsequenzen fürchtet? Oder das Mädchen, weil es sich so verhält, wie es sich verhält?

Kommen Reither und die Palm nicht zusammen, weil sie wegläuft? Weil er sie nicht sucht? Oder kann er es wegen seiner Verletzung nicht, die das Mädchen verschuldet hat? Hat Reither Schuld, daß das Mädchen sich derart wehrt?

Haben Reither und Palm, stellvertretend für alle Menschen, Schuld am Schicksal der Flüchtlinge, verkörpert durch das Mädchen?

Offene Fragen, die für mich einen guten Roman ausmachen.

von: Ayelet Gundar-Goshen
von: Charles Dickens
von: Henning Mankell
 

Helmut Pöll

Moderator
Teammitglied
9. Dezember 2013
6.582
11.188
49
München
Kommen Reither und die Palm nicht zusammen, weil sie wegläuft? Weil er sie nicht sucht? Oder kann er es wegen seiner Verletzung nicht, die das Mädchen verschuldet hat? Hat Reither Schuld, daß das Mädchen sich derart wehrt?
Ich weiß nicht, ob man hier von Schuld sprechen kann. Reither hat sich jahre-, wenn nicht jahrzehntelang in einer relativ bequemen Welt eingeigelt. Und vor lauter Bedenken und Analysen ist darüber das Leben vergangen. Jetzt holt ihn die Vergangenheit ein und er kann nicht damit umgehen, auch nicht mit einem traumatisierten Mädchen.
In diesen Tagen war in den Medien oft die Rede von einer Blase, in der sich beispielsweise Teile der Politik befänden, die sich von einem Teilder Wähler entfremdet hätten. "Blase" trifft es auch für Reither ganz gut. @Atalante
 

Atalante

Aktives Mitglied
20. März 2014
859
1.095
44
atalantes.de
Diskutieren wir hier jetzt weiter, @Helmut ?;)

Ich habe es nicht so gelesen, daß Reither sich in seiner bequemen Welt eingeigelt hätte, so wie du es interpretierst. Er hat gelebt und seinen Verlag geleitet. Denken und Analysieren inbegriffen, aber das kriegt man doch auch ganz gut hin während man lebt. ;)

Ich würde auch nicht sagen, daß ihn die Vergangenheit einholt. Die Vergangenheit ist sowieso immer dabei als persönlichkeitsprägende Erfahrung.
 

Helmut Pöll

Moderator
Teammitglied
9. Dezember 2013
6.582
11.188
49
München
Er hat gelebt und seinen Verlag geleitet. Denken und Analysieren inbegriffen, aber das kriegt man doch auch ganz gut hin während man lebt.
Allerdings. Ja, er hat seinen Verlag geleitet und auch wenn der kein großer finanzieller Erfolg gewesen ist so hat es ihm an materiellen Dingen nicht gefehlt. Auch jetzt, im Ruhestand, muss er nicht darben.
Aber der entscheidenden Frage, ob er nicht doch eine Familie hätte gründen sollen, sich nicht doch für das Kind hätte entscheiden sollen, dieser Frage ist er immer ausgewichen, meiner Interpretation nach - in einer Mischung aus "immer beschäftigt sein" und dem Trostwein am Abend.
Klar ist die Vergangenheit immer dabei, entweder bewusst oder als Elefant unter dem Teppich. Aber wenn Reither diesen wichtigen Punkt früher für sich geklärt hätte, dann hätte er ihn nicht mit dieser Wucht auf der Fahrt getroffen. Meine ich jedenfalls, in die Köpfe der anderen kann man ja nie reinschauen ;)
 

Atalante

Aktives Mitglied
20. März 2014
859
1.095
44
atalantes.de
Ich bin der Ansicht, vergangenen Geschehnisse lassen sich nicht mehr im Nachhinein klären. WIe heißt es so schön "Chance gehabt, Chance vertan". Reither weiß mittlerweile, daß er durch damalige Reaktion seine große Liebe verloren hat. Aber ob er auch bereit gewesen wäre, ein gemeinsames Kind zu wagen, um sie zu behalten, da bin ich mir nicht sicher. Noch unsicherer bin ich mir, ob er diesem Kind hinterher trauert. Ich habe es so verstanden, daß es immer die Kinder sind, die ihm einen Strich durch die Liebe machen.
 

Beliebteste Beiträge in diesem Forum