Rezension (5/5*) zu Wenn ich wiederkomme von Marco Balzano

parden

Bekanntes Mitglied
13. April 2014
5.835
7.675
49
Niederrhein
www.litterae-artesque.blogspot.de
Italienkrankheit...

Sie lassen die eigene Familie zurück, um sich um fremde Menschen zu kümmern – die Frauen aus Osteuropa. Daniela ist eine von ihnen. Sie arbeitet in Mailand, rund um die Uhr, ist zuverlässig und liebevoll als Pflegerin und als Kinderfrau. Doch je mehr sie fremden Familien hilft, desto heftiger vermisst sie die eigenen Kinder. Als ihrem heranwachsenden Sohn etwas zustößt, muss sie eine Entscheidung treffen. (Klappentext)


Erster Satz: „Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen.“


Wer schon einmal in der Situation war eine Entscheidung treffen zu müssen, wie ein pflegebedürftiger Angehöriger am besten versorgt werden kann, der wird sich auch mit der Thematik „Pflegerin aus dem Osten“ auseinandergesetzt haben. Kaum jemand jedoch wird in diesem Zusammenhang darüber nachdenken, wie es diesen Pflegerinnen bei ihrer Arbeit ergeht. Und was die Entscheidung, für diese im Verhältnis gut bezahlte Arbeit ihr Land und ihre eigene Familie zu verlassen, für die Frau und ihre Angehörigen eigentlich bedeutet. Marco Balzano hat sich mit diesem in vielen westlichen wie östlichen Ländern aktuellen Thema auseinandergesetzt, und sein neuester Roman liefert dazu ein bedrückendes und mahnendes Bild.

„Wenn ich wiederkomme“ ist ein dreistimmiger Familienroman, der in drei Teile gegliedert ist und aus wechselnden Ich-Perspektiven erzählt wird.

Als Erster kommt der anfangs 12jährige Manuel zu Wort, den das heimliche Verschwinden seiner Mutter ins ferne Mailand sehr trifft. Sein Vater Filip ist keine wirkliche Unterstützung, er war immer schon labil und unzuverlässig, und so wundert es kaum, dass er sich weder um seine Kinder noch um den Haushalt kümmert, sondern bald ebenfalls die Familie verlässt. Manuel schwankt zwischen großer Einsamkeit, Sehnsucht und Wut auf seine Mutter, die bald einsetzende Pubertät macht es nicht leichter. Weder seine acht Jahre ältere Schwester noch die Oma, die die Kinder versorgt, bieten dem Jungen den notwendigen Halt. Und als der Großvater stirbt, dem Manuel sich als Einzigem noch nahe fühlte, droht die Einsamkeit ihn zu überwältigen.


„Als meinem Vater klar wurde, dass seine Frau sich davongemacht hatte, begann er, die Tür mit Tritten zu traktieren und mit den Fäusten gegen die Wand zu schlagen, während ich hinaus unter die Pergola ging und so laut ihren Namen schrie, dass es nach einer Weile sogar Papa zu viel wurde…“


Im zweiten Teil des Romans erfährt der Leser aus Sicht der Mutter Daniela die Gründe für ihr heimliches Verschwinden aus dem kleinen Dorf in Rumänien sowie einen Einblick in ihr Leben mit ihren wechselnden Stellen in Mailand, immerhin bereits vier Jahre lang. Daniela spart jeden Cent, um ihre daheim gebliebene Familie finanziell zu unterstützen. Außer Zigaretten gönnt sie sich nichts, und neben schwerer körperlicher Arbeit laugt das ständige Kreisen um die alternden Menschen am Ende ihres Lebens mit ihren diversen körperlichen und geistigen Gebrechen die junge Frau zunehmend aus. Durch regelmäßige Telefonate versucht Daniela, den Kontakt zu ihren Kindern zu halten, doch nur zu bald wird deutlich, dass das auf diese Entfernung kaum geht und dass man sich nicht mehr viel zu sagen hat.


„Ich muss nur einen Weg finden, mir meinen Lebensunterhalt zu verdienen, damit es ihm an nichts fehlt, aber die Wahrheit interessiert mich nicht (…) Die ganze Vergangenheit interessiert mich nicht. Wäre die Erinnerung ein Stück Holz, ich würde sie ins Feuer werfen. Und dann zuschauen, wie sie zu Asche verbrennt.“


Der dritte Teil widmet sich schließlich Danielas Tochter Angelica, von der die Mutter erwartet hat, dass diese nicht nur einen guten Schulabschluss macht und anschließend studiert, sondern dass sie sich als acht Jahre ältere Schwester auch um Manuel und den Haushalt kümmert. Eine zwangsläufige Überforderung, die mit Schuldgefühlen und Abwehr einhergeht, und trotz der Dankbarkeit Angelicas für die Möglichkeit eines Studiums und damit eines anderen Lebens als das der Mutter, bleiben auch Zorn, Unverständnis und Ablehnung.


„Ich hätte so gern weniger Angst vor der Liebe, die mich mit ihr verbindet, vor dem Schicksal, das ihrem ähneln könnte. Ich hätte gern weniger Angst davor, dass ihr ausgemergeltes Gesicht mit der Zeit zu meinem wird.“


„Heimat und Entwurzelung“ – diesen Begriffen bleibt Marco Balzano auch in diesem Roman treu. Eindringlich schildert er anhand seiner fiktiven Figuren die psychischen wie sozialen Folgen dieser so besonderen Arbeits- und Lebenssituation. Ein Weiterleben mit und trotz der Entscheidungen anderer, die man selbst nicht gefällt hätte und die es schwer machen, seinen eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden. Distanziert aber dennoch gefühlvoll gewährt der Autor dem Leser Einblick in das Erleben der verschiedenen Familienmitglieder, der Schreibstil ist einfach aber eingängig und dabei oftmals wie kurz angebunden, was zur Verletzlichkeit der erzählenden Personen passt, die durch die spröde Art sich zu geben sich selbst zu schützen versuchen. Ein melancholischer Ton durchzieht die Seiten, spürbar die Einsamkeit und Trostlosigkeit – mich hat die Erzählung oftmals ergriffen.

Familien, die auseinanderbrechen, Frauen, die sich entwurzelt fühlen, Kinder, die auf der Strecke bleiben. Dieses Ausmaß an „Kollateralschäden“ hätte ich so nicht vermutet. Und doch geht es noch schlimmer, wie der Autor in seinem aufschlussreichen Nachwort erläutert. Nicht wenige Kinder rumänischer Frauen, die sich gezwungen sehen, im Ausland für das Auskommen ihrer Familien zu sorgen, können nicht von Angehörigen zu Hause betreut und verpflegt werden, sondern landen als „Eurowaisen“ in staatlichen Heimen, denen es finanziell aber ebenfalls nicht gut geht. Dazu kommt noch oftmals eine Burnout-Problematik hinzu, die die Frauen fast zwangsläufig befällt, weil sie sich um fremde Menschen mit schweren Gebrechen in einem fremden Land mit einer fremden Sprache kümmern müssen und kaum noch ein eigenes Leben führen können, während die Mitglieder der eigenen Familie ihnen immer fremder werden und sie ihre Rolle als Mutter nicht länger erfüllen können. „Italienkrankheit“ nennen Balzano (und die Psychologen) das - seine Recherchen zu dem Roman hat der Autor im Wesentlichen auf rumänische Pflegerinnen in Italien fokussiert.


„Wer eine Geschichte erzählen will, muss ihr zuhören können: Die Worte dieser Frauen, Kinder und Jugendlichen sind der Keim, aus dem dieses Buch geboren wurde. Es zu schreiben, war für mich ein Versuch der Wiedergutmachung.“


„Wiedergutmachung“ scheint allerdings ein hehres Ziel… In jedem Fall aber hat Marco Balzano mit seinem bedrückenden Roman diese sich einander so ähnelnden Schicksale der Familien sichtbar gemacht, deren Mütter sich aus finanzieller Not heraus entschließen, ganz unabhängig von ihrem bisherigen Leben und ihren eigentlichen Qualifikationen, als Pflegerin in Italien zu arbeiten. Ein Schicksal, das hier beispielhaft und eindringlich dargestellt wird und das den Leser nachdenklich zurücklässt.

Unbedingt lesenswert!


© Parden