Rezension Rezension (5/5*) zu Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Was man von hier aus sehen kann von Mariana Leky
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Okapi-Träume und das Leben...

Selma, eine alte Westerwälderin, kann den Tod voraussehen. Immer wenn ihr im Traum ein Okapi erscheint, stirbt am nächsten Tag jemand im Dorf. Unklar ist allerdings, wen es treffen wird. Davon, was die Bewohner in den folgenden Stunden fürchten, was sie blindlings wagen, gestehen, verschwinden lassen oder in Ordnung bringen, erzählt Mariana Leky in ihrem Roman – und natürlich noch viel mehr. "Was man von hier aus sehen kann" ist das Porträt eines Dorfes, in dem alles auf wundersame Weise zusammenhängt. Aber es ist vor allem ein Buch über die Liebe im Modus der Abwesenheit.

Luise ist es, die hier ihre Geschichte erzählt - zunächst rückblickend auf sie als Zehnjährige, die, weil ihre Mutter fast nie Zeit für sie hat und weil ihr Vater zu sehr damit beschäftigt ist darüber nachzudenken, wie er mehr von der Welt 'hereinlassen' kann, meistens bei ihrer Großmutter Selma ist, oft gemeinsam mit ihrem gleichaltrigen Freund Martin. Selma ist es auch, die für Unruhe im Dorf sorgt, als ruchbar wird, dass sie wieder einmal von einem Okapi geträumt hat.


"Das Okapi ist ein abwegiges Tier, viel abwegiger als der Tod. Und es sieht vollkommen zusammenhangslos aus mit seinen schwarz weiß gestreiften Zebra-Oberschenkeln, seinen Tapir-Hüften, seinem giraffenhaft geformten rostroten Leib, seinen Reh-Augen und Maus-Ohren. Ein Okapi ist absolut unglaubwürdig - in der Wirklichkeit nicht weniger als in den unheilvollen Träumen einer Westerwälderin."


Immer, wenn das Okapi in Selmas Träumen auftaucht, stirbt jemand Nahestehendes innerhalb von 24 Stunden. Keiner will wirklich daran glauben, und doch treibt es die Menschen im Dorf um, sich rasch noch um Wichtiges und Unerledigtes zu kümmern, bevor es womöglich zu spät ist. Und auch wenn sich der Tod diesmal um einige Stunden verspätet - wieder trifft es einen aus ihrer Mitte. Und danach ist nichts mehr, wie es vorher war.

Nach einem Zeitsprung von 12 Jahren begegnen wir Luise wieder, verzogen in die nächstgelegene Kreisstadt, aber immer noch herzlich verbunden mit Selma und mit vielen anderen Menschen aus dem Dorf. Und eines Tages, als sie gar nicht damit rechnet, begegnet Luise am Waldrand - der Liebe. Einer unbedingten Liebe, die dennoch kaum möglich ist, denn der, der ihr da begegnet, ist Frederik, ein buddhistischer Mönch, der nur wegen eines Seminars im Westerwald ist und ansonsten in Japan lebt.

Dies ist eines der Bücher, die auf mich einen unglaublichen Sog ausüben. Einmal angefangen, mochte ich gar nicht damit aufhören. Bei acht Stunden und zwei Minuten Dauer des ungekürzten Hörbuchs ein wohl unmögliches Unterfangen, und doch suchte ich immer wieder nach Gelegenheiten, möglichst viel davon am Stück zu hören. Dabei verzauberte mich die Sprache, der unaufgeregte, bildhafte, sanfte Schreibstil, und ich gewann die Personen immer lieber, so verschroben sie auch sein mochten.

Eine Dorfgemeinschaft bringt die Menschen auf engstem Raum zusammen, und bei aller Unterschiedlichkeit und Eigentümlichkeit gibt es hier in diesem Dorf im Westerwald einen zunehmenden Respekt voreinander, eine Toleranz, ein Wir, das mich zuweilen wünschen ließ dazuzugehören. Selma und ihren heimlichen Verehrer, den Optiker, habe ich zwangsläufig ins Herz geschlossen - er, der immer verzagt ist und kofferweise Briefanfänge aufbewahrt, die, geschrieben über die Jahre, versuchen sollten, Selma seine heimliche Liebe zu erklären, und sie, die weise und voll trockenen Humors aufs Leben blickt und auch in schweren Stunden zuverlässig für Luisa und für andere da ist.

Auch wenn hier skurrile Elemente Einzug halten - wie der Traum vom Okapi oder auch die Liebe Luises zu dem buddhistischen Mönch - ist diese Erzählung absolut liebenswert. Dabei steuert Mariana Leky ihre Charaktere und mit ihnen den Leser sanft aber zielsicher durch das Meer der Emotionen, Lachen und Weinen stets nahe beieinander. Wenn Sprache derart berühren kann, dann liebeliebeliebe ich den Roman.

Die Stimme von Sandra Hüller passt wundervoll zu der Erzählung, der Vortrag sehr ruhig gehalten, unterbrochen nur von aufblitzendem Humor - und einem defekten Anrufbeantworter, den ich mir sofort zulegen würde. Das versteht jetzt nur jemand, der das Buch kennt, aber dieser eigensinnige Apparat ist einer der unverzichtbaren und liebenswerten Details des Romans.

Auch wenn das Jahr noch viele Monate vor sich hat, kann ich jetzt schon sagen: dieses Buch gehört zu meinen Jahres-Highlights. Und ganz sicher werde ich es noch einmal hören / lesen / was auch immer. Von mir gibt es hier in jedem Fall eine glasklare Leseempfehlung!


© Parden