Rezension (5/5*) zu Vor dem Fest: Roman von Sasa Stanisic

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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49
Brandenburg
Ja, Kunst. Eindeutig Kunst.

Kurzmeinung: Muss man nicht unbedingt lesen, aber wenn man es liest, sollte man die Sprachkunst des Autors würdigen.


Manchmal stelle ich mir die Frage, für wen ein Autor schreibt. Für sich selber, wie ich es, z.B. bei „Matou“ von Michael Köhlmeier in erster Linie vermute, für die Galerie, wie ich es bei den hochkünstlich und/oder hochkünstlerischen Schreibern annehme, also für Ruhm und Ehre seitens des Feuilletons, wie ich es mir auch bei Saša Stanišić vorstellen könnte und auch bei anderen Autoren, deren Titel regelmäßig auf der Longlist des Deutschen Buchpreises auftauchen. Oder schreiben sie etwa gar für diejenigen, die Spaß am Lesen haben, für diejenigen, die man „Vielleser“ nennt und die regelmäßig Bücher im Buchhandel kaufen, also, strenggenommen, für den Kunden? Ich fürchte, für die zuletzt Genannten schreiben sie am wenigsten.

Der Roman „Vor dem Fest“, ist so ein Zwischending: für alle ein bisschen und für die Galerie am meisten. In poetischen Bildern beschreibt der Autor das Leben in einer Dorfgemeinde im Landkreis Uckermark, also im Brandenburgischen gelegen. „Der Morgennebel raubt den Farben den Atem“. Man ist in der Nachwendezeit, die Jugend ist bis auf wenige Ausnahmen abgewandert, man richtete sich ein. Eine exzentrische, hoch betagte Malerin hat über die Jahre hinweg den Alltag in Fürstenfelde in Landschaftsansichten und Porträts festgehalten, andere Originale machen aus ihrer Garage eine anspruchslose Kneipe, die jedoch die Grundbedürfnisse der Einheimischen befriedigt: Saufen und dummes Zeug von sich geben, Frust ablassen und nicht alleine sein. Eine dicke alte Frau hegt im Heimatmuseum die Dorfchronik samt ihrer Geheimnisse ein, ein ehemaliger NVA Offizier kommt gerade so über die Runden und denkt an Suizid.

Die im Heimatmuseum in einem alten Folianten verborgenen Geheimnisse deckt der Autor der Leserschaft allerdings nach und nach auf. Seit der ersten beurkundeten Benennung des Dorfes sind schröckliche und seltsame Dinge geschehen, mehrere unaufgeklärte Morde, Verbrennungen, Intrigen und falsche Verdächtigungen, die Junker strecken noch immer die Hand nach dem Land aus, allen voran Poppo von Blankenburg. Bis jetzt ohne Erfolg. Es gab Geschehnisse einstens, berichtet und festgehalten in der Dorfchronik, wo man die in der Mär und Legende verborgene Prise Wahrheit mit der Lupe suchen muss, aber etwas wird schon dran sein: da liest man vom Fährmann, dem Teufel und der Pest oder vom Bierbrauer, der schlecht braute und dem die Frau weglief, auf einem Besenstiel geritten gar abhanden kam, nee, aber es war Hexerei im Spiel, etc. etc. Einen großen Brand hat es auch gegeben. Und wer war schuld? Man klärt solche Dinge besser nicht auf noch spürt man Motive auf, deren man sich schämen müsste. Aber alles steht in der Chronik, bewacht von der dicken Frau in einer kleinen Kammer, die Tür mit einem Zahlengeheimschloss gesichert.

Der Kommentar:
So viel historisches Geschehnis und gleichzeitig die Verflechtung heutiger Beziehungen in einen einzigen recht schmalen Band unterzubringen, ist wahrlich eine Kunst.
Alles, was die Sprachkunst hergibt, bemüht der Autor lustvoll und ausgiebig für seine Erzählung. Er schreibt assoziativ, zitiert (erfindet) Einträge aus der Dorfchronik und setzt sie als Authentizitätsbeweis in historisches (also schlecht lesbares) Deutsch. Immer wieder stößt man auf wunderbare Wortspiele. Märchenhafte, nicht immer ganz durchschaubare Zusammenhänge, Aphorismen, Lakonisches und humorvolle Einflechtungen wechseln sich ab. Nach einem Unfall heißt es: „Im Schnitt liegen im TATORT im Laufe eines Jahres mehr tote Autofahrer mit dem Kopf auf dem Lenkrad als in sechs ausgewählten amerikanischen Fernsehkrimireihen im gleichen Zeitraum.“ Zum Schreien.

Am Ende weiß man einigermaßen Bescheid über Land und Leute, über Gegenwart, Zukunft und ganz viel Vergangenheit.
So etwas muss man Saša Stanišić erst einmal nachmachen. Der Autor beherrscht die Verdichtung des Stoffes wie kaum ein anderer. Andererseits geht seine Lust am Sprachspiel und am Fabulieren manchmal auch auf Kosten der Verständlichkeit. Nicht alles wird ausgelotet. Aber klar ist geworden: „Hier ist alles immer gleich oder ändert sich sehr langsam.“ Und das ist das Wesentliche. Oder?

Fazit: Das moderne Schreiben ist anders. Ich habe den Roman „Vor dem Fest“ größtenteils gerne gelesen. Der Lust an der Sprache ist Tribut zu zollen, selbst wenn man ein Fan der alten Erzählweise ist und bleibt. Der Leipziger Buchpreis 2014 geht in Ordnung.

Kategorie: Anspruchsvoller Roman. Moderne Erzählung.
Leipziger Buchpreis, 2014
Verlag: Luchterhand, 2014

 

Irisblatt

Bekanntes Mitglied
15. April 2022
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Oder schreiben sie etwa gar für diejenigen, die Spaß am Lesen haben, für diejenigen, die man „Vielleser“ nennt und die regelmäßig Bücher im Buchhandel kaufen, also, strenggenommen, für den Kunden? Ich fürchte, für die zuletzt Genannten schreiben sie am wenigsten.
Ich bin der Überzeugung, dass gute Literatur vor allem dann entsteht, wenn Autor:innen ohne Rücksicht auf Leserschaft, Feuilleton usw. erst einmal zu Papier bringen, was ihnen selbst wichtig ist, sie eine Form für ihre Geschichte finden- wenn da einfach etwas seinen Ausdruck findet. Im Idealfall entstehen dann auch für Leser:innen besondere, berührende, authentische Geschichten.
Ich erwarte nur bei Sachbüchern, dass für die Zielgruppe geschrieben wird.
Literatur ist für mich im Idealfall Kunst und ein Ausdruck schöpferischen Schaffens. Entweder es gefällt mir oder nicht.
 

Emswashed

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9. Mai 2020
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Ich bin der Überzeugung, dass gute Literatur vor allem dann entsteht, wenn Autor:innen ohne Rücksicht auf Leserschaft, Feuilleton usw. erst einmal zu Papier bringen, was ihnen selbst wichtig ist, sie eine Form für ihre Geschichte finden- wenn da einfach etwas seinen Ausdruck findet.

Ja, gute Literatur! Und irgendwie spürt der Leser das auch instinktiv und honoriert es entsprechend.
 

alasca

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13. Juni 2022
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Ja, Kunst. Eindeutig Kunst.

Andererseits geht seine Lust am Sprachspiel und am Fabulieren manchmal auch auf Kosten der Verständlichkeit.
Ich habe gerade die Sprache unglaublich genossen. Und fand sie absolut verständlich. Die Figur der Füchsin habe ich geliebt. Was für eine Idee! Wunderbarer Kunstgriff. Und wie glaubwürdig er sich in ihr Innenleben versetzt hat, ohne sie auch nur einen Deut zu vermenschlichen! Und die filigranen Verflechtungen. Und dann diese Auflösung! Hach! :joy Stanisic ist einer unserer ganz Großen.