Rezension (5/5*) zu Verräterkind: Roman von Sorj Chalandon

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29. März 2022
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Mainz
Buchinformationen und Rezensionen zu Verräterkind von Sorj Chalandon
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Verrat hier, Verrat da- welche Geschichte ist nun wahr?

"Verräterkind" ist der erste Roman aus der Feder von Sorj Chalandon, den ich las. Der französische Schriftsteller und Journalist verarbeitet in seinen Geschichten wohl sein eigenes Verhältnis zum Vater. Dies ist spätestens seit seinem zehnten Lebensjahr belastet, erfuhr er doch zu diesem Zeitpunkt bei einem seiner Besuche der Großeltern, dass sein Vater im Krieg "auf der falschen Seite gestanden habe", er also ein Verräterkind sei. Dies bedeutete zum einen das Ende der idyllischen Besuche im Hause der Großeltern, zudem den Beginn einer quälenden Ungewissheit um die Wahrheit seines Vaters.

Chalandon wird als 30 jähriger Journalist beauftragt, den 1987 startenden Prozess in Lyon gegen den NS-Verbrecher Klaus Barbie zu verfolgen und für die Heimatzeitung darüber zu berichten. Barbie wird für seine Taten während des zweiten Weltkrieges zur Verantwortung gezogen, wo er etwa 800 Erwachsene in seiner Funktion als Chef der Gestapo in Lyon deportieren ließ. Als Leser erfahren wir viel über die Greuel dieser Zeit, insbesondere auch der Rolle Frankreichs in diesem düsteren Kapitel europäischer Geschichte. Chalandon beobachtet den Prozess minutiös. Intention ist die Konzentration auf diesen Prozess mitsamt all der schockierenden Zeugenaussagen jüdischer Überlebender. Das geht unter die Haut. Chalandon, dem autofiktionalen Erzähler, dem Leser- nicht aber Barbie selbst. Verstörend sind für Chalandon auch die gleichgültigen Reaktionen seines Vaters, den er während des Prozesses beobachtet. So wird der Prozess über Barbie zunehmend auch zum Prozess gegen den Vater und dessen Verrat: Akten belegen, dass sein Vater ein Lügengebäude aufgebaut hat, vieles nicht stimmen kann. Doch was ist die Wahrheit? Worin besteht das Vergehen seines Vaters? Fragen über Fragen, die dem Sohn durch den Kopf schwirren. Kaum öffnet sich ihm der Vater partiell, folgt kurz darauf die Widerlegung der entsprechenden Ausagen. Mehr sei hier nicht verraten.

"Verräterkind" ist ein Roman, der mich zum einen zutiefst erschüttert hat, denn er behandelt harten Tobak, der einen erschaudern lässt. Gleichzeitig hat mich die Geschichte aber auch begeistert. Die Paralellität der beiden Gerichtsprozesse, dess offiziellen Prozesses gegen Barbie, aber auch der schwelende Prozess des Sohnes gegen den eigenen Vater ist brilliant konstruiert. Jeder ist in seiner Identität durch seine eigene Herkunft auf die Eltern zurückgeworfen. Ungereimtheit und Vergehen der Eltern, belasten und irritieren zwangsläufig die eigene Identität. Mit Blick auf Kinder von Opfern ist dies bekannt, doch hier erfahren wir eindrucksvoll, dass Kinder von Tätern gleichermaßen betroffen sind. Die Vergangenheit von Chalandons Vater trübt und belastet dessen Gegenwart - so sehr, dass er sein literarisches Schaffen dieser Thematik widmet und mithilfe der Kraft der Literatur versucht, ins Reine zu kommen.

Entstanden ist auf diese Weise ein sehr lesenswerter Roman über ein düsteres Kapitel in der europäischen Geschichte, der einen wichtigen Beitrag zur Erinnerungskultur leistet. Unbedingt lesen!

 

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