Rezension (5/5*) zu Verräterkind: Roman von Sorj Chalandon

Christian1977

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8. Oktober 2021
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Buchinformationen und Rezensionen zu Verräterkind von Sorj Chalandon
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Nichts als die Wahrheit

Als der Erzähler im zarten Alter von zehn Jahren von seinem Großvater erfährt: "Dein Vater stand im Krieg auf der falschen Seite", ist das eine solch prägende Information, dass sie das weitere Leben des Jungen erheblich beeinflussen wird. Noch dazu, weil der Großvater ergänzt, er sei ein "Verräterkind". Ein Begriff, der nicht nur den Vater brandmarkt, sondern auch das Kind. Dabei hatte ihm der Vater doch ausführlich über seine Heldentaten in der französischen Résistance berichtet. Was macht es mit einem Menschen, wenn er erkennt, dass sein Vater ihn jahrelang belogen hat? Wie fühlt es sich an, ein "Verräterkind" zu sein? Darüber schreibt Sorj Chalandon in seinem neuesten gleichnamigen Roman, der in der deutschen Übersetzung von Brigitte Große jetzt bei dtv erschienen ist. Dass "Verräterkind" als Autofiktion und damit als äußerst persönliches Werk angesehen werden kann, erfahren die Leser:innen schon in der Widmung. Er dankt seiner Lektorin, die ihn seit 2005 "auf dem steinigen Weg zu meinem Vater, meinem ersten Verräter, begleitete".

Bereits das erste Kapitel zieht der Leserschaft mit ungemeiner Wucht den Boden unter den Füßen weg. Der Ich-Erzähler reist im April 1987 nach Izieu, um sich auf die Spuren der 1944 aus dem dortigen Kinderheim deportierten jüdischen Kinder und ihrer Betreuer:innen zu begeben. Er bereitet sich auf seine Reportage über den Gerichtsprozess gegen den deutschen Gestapo-Leiter Klaus Barbie vor, jenen "Schlächter von Lyon", der unter anderem auch für diese Deportation verantwortlich war. Unschwer sind bereits hier die Gemeinsamkeiten zwischen Sorj Chalandon und dem Ich-Erzähler zu erkennen, denn für diese Reportage wurde der Autor und Journalist 1988 mit dem Albert-Londres-Preis gekrönt. Chalandon erzählt in kurzen, pointierten Sätzen und macht das Grauen von Izieu unmittelbar deutlich. Er findet in einer tieftraurigen Szene die Schultafel eines getöteten Kindes mit dem Wort "Apfel" und richtet verzweifelt später in einem eindringlichen "Du" das Wort erstmals direkt an seinen Vater: "Warum wurdest du zum Verräter, Papa?" Fast scheint es, als könnte dieses erste Kapitel die Grundlage des gesamten Romans sein. Hätte Sorj Chalandon "Verräterkind" vielleicht gar nicht geschrieben, wenn er sich die Maison d'Izieu nicht selbst angeschaut hätte? Eine Spekulation, gewiss, doch eine zentrale Rolle kann man diesem Besuch kaum absprechen.

In der Folge verknüpft Chalandon äußerst klug und geschickt die zwei entscheidenden Prozesse des Buches miteinander. Abwechselnd erzählt er vom Gerichtsprozess gegen Klaus Barbie und seinem eigenen, inneren Prozess: das Leben als Kind eines Lügners und Hochstaplers. Denn tatsächlich entpuppt sich die Geschichte des Vaters als so unglaublich, dass sie allein für einen mehrere hundert Seiten starken Roman ausgereicht hätte. Vater Jean wechselte im Zweiten Weltkrieg nämlich ständig die Seiten und Uniformen. Von französischen Legionären im Kampf gegen den Bolschewismus zur französichen Armee, von der deutschen Uniform zur französischen Résistance und wieder zurück. Ganz nebenbei erhält man zudem als Leser:in dabei einen hervorragenden Überblick über die verschiedenen politischen Strömungen und Bewegungen im besetzten Frankreich. Die Volten und Desertationen des Vaters sind so widersprüchlich, dass man ihnen kaum folgen kann. Und auch der Ich-Erzähler weiß gar nicht mehr, welche der zahlreichen Geschichten aus seiner Jugend er überhaupt noch glauben kann.

So leistet sich "Verräterkind" in der Darstellung der Figuren seine einzige kleine Schwäche, die aber aufgrund der zahlreichen Stärken kaum ins Gewicht fällt. Denn der Vater wird nahezu durchgehend als ungebildeter Taugenichts dargestellt und auch die Mutterfigur wirkt zwar warmherzig, aber äußerst schwach und einfach gestrickt. Es mag zwar keine positive Eigenschaft sein, aber wenn ein Mensch sich über mehrere Jahre immer wieder aus lebensbedrohlichen Situationen befreit, indem er als "Wendehals" seine Fühler mal in diese, mal in jene Richtung ausstreckt, so ist es doch kaum eine Figur, die nichts kann und nichts auf die Reihe bekommt. Zudem dauert es geschlagene 295 Seiten, bis einmal so etwas wie eine zärtliche Szene zwischen Vater und Sohn aufkommt.

Besonders stark sind die Szenen, in denen der Ich-Erzähler über seinen Vater und sich selbst sinniert. Still lässt Chalandon hier visuelle Eindrücke und Geräusche poetisch in seine ansonsten doch so prägant-schmerzhaften Sätze einfließen. Überhaupt dominiert der Schmerz, der auch für mich fast körperlich spürbar war. Diese Verletzungen und Zweifel, die Ängste und die Wut.

Und auch das Finale gelingt Chalandon brillant. Die letzte Schlüsselszene ist so bewegend und vieldeutig konstruiert, dass man als Leser:in in einem Rausch aus Trauer und Erstaunen versinkt, nur um mit dem Umblättern auf die letzte Seite des Romans wieder in eine ganz andere Richtung gelenkt zu werden.

Insgesamt ist "Verräterkind" ein grandioser Roman, der mit Sicherheit nicht zu Unrecht für den Prix Goncourt nominiert war. Intensiv, schmerzhaft, berührend, spannend und lehrreich lässt er die Leserschaft ungläubig zurück. Mit seinen zentralen Themen Schuld, Verrat, Schmerz und Moral leistet er auch mit Blick auf die heutige Gesellschaft einen wertvollen und unbedingt lesenswerten Beitrag.