Rezension (5/5*) zu Vernichten: Roman von Michel Houellebecq

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Buchinformationen und Rezensionen zu Vernichten: Roman von Michel Houellebecq
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Vom Leben und vom Sterben.

Kurzmeinung: Ich kann nicht anders, ich muss alle Sterne vergeben!


Grob gesagt geht es ums Sterben. Und um den Tod. Die beiden unleidlichen Begriffe, die, wie wir ja wissen, aufs Engste verknüpft sind. Grundaussage des Buches: der Tod vernichtet das Leben. Lapidar. Und doch, wie Michel Houellebecq das macht, wie er sein Sujet handhabt, das ist schon grandios, Er schleicht sich von hinten an dich ran.

Was ich an Michel Houellebecqs Romanen bisher (lediglich gelesen: Unterwerfung, abgebrochen: Serotonin) mag, das ist vor allem der jeweilige politische Kontext. In „Vernichten“ wie in „Unterwerfung“ schaut der Autor auf Frankreich. Zwar siedelt er das Romangeschehen beide Male um ein Weniges in der Zukunft an, doch hat er ein scharfes Auge auf die gesellschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnisse im Land. Seine Analysen sind messerscharf.

Im vorliegenden Roman nimmt Houellebecq vor allem den Wahlkampf ins Visier, zeigt die Verflechtungen, Berechnungen und die Manipulationen auf, die die Wahlkampfagenturen aushecken. Politiker werden geschult, jedes Wort, das sie im Interview sagen, wurde gebrieft; der Kandidat wird mit seinem Privatleben unter die Lupe genommen; nichts bleibt vor dem Skalpell verschont: passt, passt nicht, muss verändert werden, verstärkt, darf nie ans Licht kommen, etc. etc. Letztlich geht es immer darum, wie verkaufen wir die Öffentlichkeit für dumm? Laut Houellebecq. Zwischen den Zeilen. Doch da steckt mehr als ein Körnchen Wahrheit darin. Der Wirtschaftsminister, der den Kandidaten massiv unterstützt, und der eine gute Stimme hat, lernt zuhause Arien zu singen, und rezitiert Gedichte. So kommt sein Timbre noch besser an. Er bekommt auch eine intelligente junge Geliebte, damit er nach einer gescheiterten Ehe bessere Laune ausstrahlt. Das ist Bruno Juge, der Minister, der arbeitsbesessen sozusagen im Ministerium wohnt und dem Paul, dem Protagonisten, als persönlicher Assistent unterstellt ist. Eine gut bezahlte Vertrauensstellung.

Mit Paul kommt die private Komponente ins Buch. Die Familie. Schwelende Konflikte, scheiternde Ehen, ungelöste Fragen, Suizid, Krankheit, Tod. Sex scheint das einzige Verteidigungsmittel zu sein, das einem Mann gegen das Herannahen des Todes zur Verfügung steht. Vergessen wir nicht, es ist ein Houellebecq, den wir lesen! Frauen haben eine dienende Rolle. Sie sind allzeit bereit, ständig am Mann interessiert und erfreuen ihn sexuell. Das machen sie freiwillig und gern und umsonst! Wie Raxanne eben, die Wahlkampfassistentin von Bruno!

Eine einzige Ausnahme ist Solène Signal, die Chefin der Werbeagentur, Präsidentenmacherin, sie ist natürlich unsympathisch und kommandiert alle rum und hat (wahrscheinlich) ein Verhältnis mit ihrem Assistenten, der insofern kein richtiger Mann ist.

„Einem wirklichen Schriftsteller kann es gelingen, uns an den Tod zu erinnern. An unseren ganz persönlichen Tod. Jeder weiß, dass das Leben irgendwann endet. Aber selten machen wir uns klar, dass wir selbst es sind, die sterben werden. Während die Welt ungerührt weiterexistiert. Literatur öffnet uns manchmal für Momente die Augen für diese Wahrheit, vor der wir sie sonst zumeist schließen“. Das sagt Marcel Reich-Ranicki in Fokus Online vom 9.9.2015, geschrieben von Uwe Wittstock.

Hat Houellebecq dies geschafft? Ist ihm diese Auseinandersetzung mit uns selbst gelungen? Die Schilderung einer schlimmen Krankheit, einer sehr seltenen Krankheit sogar, ist dann doch zu selten; so dass man sich zwar entsetzt, aber man identifiziert sich nicht. Man ist nicht angefasst, wie man heute so schön sagt.

Je mehr sich der Autor vom Sog des Privaten einsaugen lässt und uns, die Leser, einzusaugen versucht, desto mehr entfernt er sich von seinem spannenden Ausgangskonzept. Cybermobbing und Cyberterrorismus. Es gerieten dubiose Sektierer in den Fokus der Ermittlungen. Und der Autor stellte mittels seiner Figuren manche Überlegungen an, die der Komik nicht entbehrten. Wiccaisten treten auf. Katholische Aktivisten. Leider bleibt aber dieser Strang lose in der Luft hängen. Gerade noch den Ausgang der Wahl bekommen die Leser am Rande noch so mitgeteilt. Und dass Bruno darauf spekuliert, selber Kandidat zu werden, war von Anfang an keine Überraschung. Der Erkrankte hat das Interesse an Politik verloren. Verständlich. Der Leser aber nicht.

Im Privaten geht es weiter mit der Krankheit des Vaters: Apoplexie, Pauls Familie ist arg gebeutelt! Wie geht die Familie jetzt damit um? Wie die Öffentlichkeit? Wie das Gesundheitssystem. Hier ist man ständig am Nicken. Liegt doch so vieles gesellschaftlich im Argen. Krankheit und Alter per se scheint ein Angriff auf die Jungen und Gesunden zu sein. Und ein Krankenhaus oder eine Pflegeeinrichtung sind Welten für sich. Abgeschlossene Welten. Es gibt nur Drinnen oder Draußen.

Um sich dagegen Vereinnahmung auf Seiten des Gesundheitswesens (eigentlich Krankheitsverwaltung) einerseits und gegen die Abschiebung in die Unsichtbarkeit und damit in die Nichtexistenz zu behaupten, gibt es nur die Werkzeuge Vermögen und Hingabe. Nur die Wohlhabenden können sich die beste Behandlung sichern, dh. eine menschenwürdige, und nur die Menschen, die jemanden haben, der sie mit Hingabe betreut, haben noch ein lebenswertes Dasein. Und wer pflegt voller Hingabe und Leidenschaft und Opferbereitschaft? Frauen. Und wer wird im Gesundheitssystem ausgenutzt: ausländische Pflegekräfte. Weiblich.

Houellebecqs Roman ist vielfältig und komplex. Und obwohl er mich zuletzt im Regen stehen lässt, wie seinerzeit Steinfests „Das grüne Rollo“, ist er auch genial.

In den Traumbildern, die Houellebecq alle Naselang entlang des gesamten Romans präsentiert, treffen sich jeweils zwei Ebenen, eine Surreale und eine des Horrors. Mit Fug und Recht kann man sie als Verarbeitungsprozeß interpretieren, eine Reaktion des Unterbewusstseins auf die Todesbedrohung.

Am meisten liebe ich die Beschreibungen der Landschaft, die der Sterbende noch einmal intensiv erlebt. Wunderbarst die Hommage an die Natur. Ich kann den Wald atmen. Der gesamte Wald wird von einem Wind gebeugt, stark und doch sanft. Die letzte Phase des Sterbeprozesses wird dadurch symbolisiert, ein Bild der Ruhe: die vollkommene Akzeptanz.

FAZIT: Trotz einiger Abstriche und trotz des vermittelten Frauenbildes, bei dem man nie weiß, wie es gemeint ist, als bloßes Abbild des Realen (Frau trägt ja tatsächlich die Last der Pflege und des sozialen Leben und sie ist Sexdienstleisterin) oder als Wunschbild, es möge so bleiben, ist „Vernichten“ selbstverständlich große Literatur.

Kategorie: Anspruchsvoll. Belletristik
Verlag: DuMont Buchverlag, 2022
Als ungekürztes Hörbuch gehört und hervorragend gesprochen von: Christian Berkel.

 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Boah, ej! Dass du eine solche Komplexität aus dem Hörbuch herausarbeiten kannst.... Hut ab!
Das kriegte ich nicht hin. Hörbuch und Rezension geht gar nicht (wenn ersteres länger als 5 Stunden ist).

Du hast lange gebraucht für den Houlle. Du hast gekämpft, warst begeistert und hast gehadert. Schön, dass du den 5ten Stern doch noch zücken konntest trotz des Regens am Ende.