Rezension (5/5*) zu Verbrenn all meine Briefe: Roman von Alex Schulman

alasca

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13. Juni 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Verbrenn all meine Briefe: Roman von Alex Schulman
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Eindrucksvolles biografisches Drama

Ebenso wie sein Roman „Die Überlebenden“ verarbeitet Schulmans neuer Roman ein Stück seiner eigenen Familiengeschichte. „Verbrenn all meine Briefe“ ist das Protokoll einer Recherche. Der Grund der Recherche sind unbeherrschbare Wutreaktionen des Erzählers, die ihm seine Kinder zu entfremden und seine Ehe zu zerstören drohen. Wie eine Familienaufstellung mit Visualisierung der Familienbeziehungen ergibt, liegt der Ursprung dieser Wut in der Familie seiner Mutter, und dort lässt sie sich bald bei seinem Großvater Sven Stolpe verorten – zu seiner Zeit ein bekannter Schriftsteller. Das auslösende Ereignis scheint die unglückliche Liebesgeschichte seiner Großmutter mit Olof Lagercrantz im Jahr 1932 gewesen zu sein.

Gekonnt verschränkt Schulman drei Erzählebenen – eine, die die Geschehnisse 1932 nachvollzieht und die Liebesgeschichte zwischen Karin und Olof erzählt. Dann die Zeitebene 1988, in der er als Kind die Ehe seiner Großeltern miterlebt, und die Gegenwart, in der er durch die Gegend fährt, Gespräche führt und immer obsessiver recherchiert. Seine Recherche wird zu seiner persönlichen Heldenreise, mit der er nicht nur die eigene Erlösung verfolgt, sondern auch die Tragik des großmütterlichen Lebens würdigt.

Erleichtert wird Schulmans Recherche dadurch, dass sowohl Stolpe als auch Lagercrantz öffentliche Personen sind, zu denen es umfangreiches Material gibt. Was er, auch mit der großzügigen Hilfe der Familie Lagercrantz, zutage fördert, ist erschütternd und dramatisch. Es ist „das Land, das nicht ist“.

Der Roman entwickelt einen starken Lesesog, dem ich mich kaum entziehen konnte. Das Schicksal seiner Großmutter ist aus unserer heutigen Sicht so über die Maßen ungerecht und mutet gleichzeitig so unausweichlich wie vermeidbar an, dass die Lektüre stellenweise unerträglich scheint. Zugleich gelingt es Schulman, die Liebe zwischen Lagercrantz und seiner Großmutter so zart und einfühlsam darzustellen, dass man zutiefst angerührt ist. Zur Hilfe kommen ihm dabei die originalen Brieftexte der beiden Liebenden, die den Bezug zum Buchtitel herstellen.

Dies ist eine Geschichte über zwei nationale Zelebritäten, Stolpe und Lagercrantz, aber sie ist weit mehr als nur Kolportage. Schulman macht ein Stück delikatester Familiengeschichte öffentlich, doch er führt niemanden vor; sein Erzähler ist um seiner Familie willen bemüht, Ereignisse und Personen zu verstehen, deren Gift bis in die Gegenwart wirkt. Es ist Schulmans schriftstellerisches Können, seine dichte, schnörkellose Sprache, die ohne Pathos und Sentiment zu bewegen weiß; es ist die bedachte Konstruktion, die eine Literatur daraus macht, die über die persönlichen Bezüge hinausweist. Sein Roman schärft das Bewusstsein für toxische Prozesse in einer Familie und dafür, wie wichtig es ist, sie aufzulösen und nicht an die junge Generation zu vererben. Würden wir alle danach streben, wäre unsere Welt gleich ein ganzes Stück besser.

Von meiner Seite eine uneingeschränkte Leseempfehlung!