Rezension (5/5*) zu Unser Teil der Nacht: Roman von Mariana Enriquez

Irisblatt

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15. April 2022
1.326
5.540
49
53
Ein düsteres, gewaltiges literarisches Werk

Schon lange habe ich mich nicht mehr in einer so düsteren, unheimlichen Geschichte regelrecht verfangen. Mit Ausnahme weniger Abschnitte im Mittelteil hat mich das Buch derart in seinen Bann gezogen, dass ich es nur schwer zur Seite legen konnte. Juan ist Mitglied in einem Geheimorden, der in okkultistischen Riten die dunklen Mächte anruft. Zum Orden gehören zwei der reichsten und dadurch einflussreichsten Familien in Argentinien. Besessen von der Suche nach dem ewigen Leben schrecken diese weder vor Folter noch vor Mord zurück. Juan, der als Kind aufgrund seiner besonderen Fähigkeiten vom Geheimorden entdeckt wurde, möchte unter allen Umständen verhindern, dass sein Sohn das selbe Schicksal erleidet. Verzweifelt sucht er nach einem Ausweg und nach einer Möglichkeit, ihn zu schützen. Doch nicht nur vom Orden geht eine permanente Bedrohung aus: Kinder und Erwachsene verschwinden spurlos während der Zeit der Militärjunta. Mariana Enriquez verwebt die in ihrem mehr als 800 Seiten umfassenden Roman die Verbrechen während der Militärdikatatur mit denen des geheimen Ordens. Die Geschichte wird über insgesamt fast 40 Jahre (1960-1997) aus der Perspektive unterschiedlicher Protagonist:innen erzählt, wobei die Kernfamilie um Juan mit seiner Ehefrau Rosario und dem gemeinsamen Sohn Gaspar im Mittelpunkt steht. Vieles bleibt zu Beginn rätselhaft. Doch immer wieder fügen sich Einzelheiten zu einem großen Ganzen und Situationen erscheinen plötzlich in einem anderen Licht. Selbst über den unbeschwerten Passagen lauert das Grauen und die Gefahr. Einige Szenen sind abscheulich und brutal - sie stechen durch den sehr bildlichen Schreibstil mitten ins Herz und sind schwer erträglich. Geschickt flicht die Autorin auch den Volksglauben, die Riten und die Mythologien der indigenen Bevölkerung in ihre Geschichte mit ein. Auch der menschenverachtende Umgang mit ihnen, ihre systhematische Ermordung und ihre Versklavung auf den Plantagen der Reichen werden thematisiert. Enriquez erzählt viele unterschiedliche Geschichten in einem von politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen gezeichneten Land - doch immer gibt es Verbindungen, die mal deutlich mal vage zu Tage treten. Beim Lesen hatte ich das Gefühl im Kino zu sitzen und eingefangen von den Geschehnissen gebannt auf die Leinwand zu schauen. Diese sehr bedrohliche, dunkle aber auch atmosphärische Geschichte voller menschlicher Abgründe werde ich mit Sicherheit nicht mehr vergessen.

 

Christian1977

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8. Oktober 2021
2.651
12.957
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47
Wenn ich deine schöne Rezension lese, ärgere ich mich, dass ich mich damals wegen der großen Seitenzahl gegen das Buch entschieden hatte. Vielleicht läuft es mir in einer lesefreieren Zeit noch einmal über den Weg.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Es liest sich auf jeden Fall deutlich schneller und weniger anstrengend als Die Flüchtigen - soviel Lesezeit wirst du gar nicht brauchen ;-)
 
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Reaktionen: Christian1977

Wandablue

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18. September 2019
9.706
22.133
49
Brandenburg
Na ja, aber Geheimorden, 1960 noch! Das glaubt doch keiner! Die Suche nach dem ewigen Leben und dann noch besondere Gaben - das klingt eher nach Fantasy als nach anspruchsvoller Literatur.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Es ist definitiv anspruchsvolle Literatur, alleine vom Aufbau und der Sprache. Hat aber durchaus auch Fantasy und Horrorelemente und man sollte es nur lesen, wenn man sich auf "Übernatürliches" einlassen kann.
 

Irisblatt

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15. April 2022
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Nee, weil es doch auch um argentinische Geschichte Kolonialzeit, indigene Bevölkerung, Volksglauben Aids in den 1980ern usw. geht, ein Teil in London der 1960er Jahre spielt. Dieser Roman lässt sich nicht einfach in ein Genre packen.
 

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