Rezension (5/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

Barbara62

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19. März 2020
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Baden-Württemberg
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Leben auf dem Vulkan

Tristan da Cunha, die nur 98 Quadratkilometer große Insel im Atlantischen Ozean, gehört zum Britischen Überseegebiet und gilt als abgelegenste bewohnte Insel der Welt. Sie diente Edgar Allan Poe, Jules Vernes, Raoul Schrott oder Primo Levi als Romanschauplatz und 2017 auch der finnischen Romanautorin und Lyrikerin Marianna Kurtto für ihren Debütroman "Tristania", mit dem sie 2019 für den renommierten Preis des Nordischen Rates nominiert war. Dreh- und Angelpunkt ist der reale Vulkanausbruch von 1961 mit der vorübergehenden Evakuierung. Im Roman bebt dabei nicht nur die Erde und es ergießt sich ein Lavastrom, es entsteht auch ein neuer Vulkan in der Flanke des alten und für die Protagonistinnen und Protagonisten bleibt nichts, wie es war.

Einsam und doch nie allein
1961 leben die Inselbewohnerinnen und Inselbewohner von dem, was die karge Umgebung ermöglicht: Fischfang und Schafzucht. Daneben wird mit gelegentlich vorbeifahrenden Schiffen Tauschhandel betrieben, was im ansonsten ruhigen Alltag vorübergehende Hektik auslöst.

Während kaum Kontakt zur Außenwelt besteht, begibt sich der von Fernweh geplagte Fischer Lars zum Handel mit Fischerzubehör regelmäßig ins sechs Schiffswochen entfernte England und lässt seine stille Frau Lise und den neunjährigen Jon zurück. Als er sich in London in die Blumenverkäuferin Yvonne verliebt, zieht er mit ihr in ein Haus am weißen Strand. Doch quält ihn sein Gewissen und Tristan da Cunha, die Insel mit dem schwarzen Sand, „die ein Berg ist, zwei Kilometer hoch, ozeantief und von Schluchten gespalten“ (S. 12), lässt sich nicht so leicht abschütteln:

"Sie ist Heimat, sie ist der einsamste Ort auf der Welt, und ich bin dort nie allein." (S. 37)

Allein mit ihrer Trauer um den Verlust bleiben die grüblerische Lise und Jon, Außenseiter und Leseratte dank väterlicher Mitbringsel.

Ein „morsches Liebeshaus“ auch bei den Nachbarn
Unglücklich ist auch das Nachbarspaar. Martha, 20 Jahre jünger als Lise und Insellehrerin, wollte mit der Familiengründung einem Trauma entkommen:

"[…] und die bösen Träume werden tief in den Bauch des Vulkans rinnen. Dort werden sie verbrennen, sich an den Rändern ringeln wie alte Fotos, die niemand mehr anschauen will." (S. 52)

Als ihr Kinderwunsch unerfüllt bleibt, entfremden sich die Eheleute. Bert, der nichts über Marthas Vergangenheit weiß, steht ihrer Traurigkeit hilflos gegenüber und verfällt in Trägheit.

Und dann bricht der Vulkan aus...

Viele Puzzleteile werden zu einem Gesamtbild
16 der 17 Kapitel spielen im Jahr des Vulkanausbruchs 1961, je sechs in Tristan da Cunha und England, vier in Kapstadt und eines auf See. Dazwischen gibt es Rückblenden und einen mit „Später: 1965“ überschriebenen Schluss. Die Erzählperspektive wechselt zwischen dem „Ich“ von Lars und Jon sowie personal Erzähltem überwiegend von Lise und Martha. Ähnlich ist allen jedoch der melancholische, poetische, überbordend bildhafte und einfach schöne Stil, sicher auch ein Verdienst des erfahrenen Übersetzers Stefan Moster. Die fehlende Unterscheidbarkeit der Stimmen könnte man kritisieren, für mich war es jedoch einfach der Inselton.

Wer ein packendes, zeitloses Drama um menschliche Verwicklungen in ungewöhnlicher Umgebung sucht, sich gerne überraschen lässt, Leerstellen, Anspielungen, falsche Fährten, absichtliche Verschleierung und unterschiedliche Zeitebenen nicht scheut, charakterliche Beurteilungen revidieren kann, eine starke, bildhafte Sprache und interessante Charaktere schätzt und Themen wie Fernweh, Heimatverbundenheit, zwischenmenschliche Konflikte, Eifersucht, Gewalt, Schuld, Reue und Neubeginn mag, für den ist "Tristania" eine ausgezeichnete Leseempfehlung.

 
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