Rezension (5/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

Literaturhexle

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2. April 2017
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Fesselnder Inselroman in bemerkenswert poetischer Sprache

Tristan da Cunha ist eine 98 Quadratkilometer kleine Insel, die als das abgelegenste bewohnte Eiland der Welt gilt. Sie liegt im südlichen pazifischen Ozean, es gibt nur eine Anhöhe, in deren Mitte „sich das Herz des Berges glühend auftut“ – es handelt sich nämlich um einen Vulkan dabei. Es ist historisch belegt, dass dieser am 8. Oktober 1961 ausbrach, was Folgen für die rund 300 Bewohner der Insel hatte. Bis dahin wurden keinerlei vulkanische Aktivitäten festgestellt. Rund um diese Naturkatastrophe hat Marianna Kurtto ihren außergewöhnlichen Roman angelegt.

Tristan da Cunha ist ein Mikrokosmos. Wir lernen nur wenige Familien kennen. Im Zentrum stehen Lars mit seiner Frau Lise und dem gemeinsamen 9-jährigen Sohn Jon. Lars ist Fischer, wie fast alle Männer auf der Insel. Man tut, was man tun muss. Der Alltag wird von Wetter, Winden und unermüdlicher Betriebsamkeit dominiert. Es gilt, genug Vorräte für den Winter anzulegen, Häuser zu bauen, Schafe zu züchten und Fische zu fangen, um sie in der am Ufer liegenden Konservenfabrik zu verarbeiten. Doch Lars ist das eintönige Leben auf der Insel nicht genug: Er bricht regelmäßig auf, um in anderen Ländern Handel zu treiben. Er bleibt mitunter Monate lang weg, beschenkt seine Lieben danach mit exotischen Mitbringseln, Süßigkeiten und Büchern. Im Oktober 1961 gilt er auf der Insel als vermisst. Er ist länger fort geblieben als üblich, Lebenszeichen gibt es keine. „Lise hat ein Kind, ihr Mann ist fort. Ein am Grund zerbröckelter Krebs oder einer, der ans Ufer kam und sich einen neuen Panzer wachsen ließ.“ (S.19)

Kurtto baut ihre Geschichte in mehreren wechselnden Perspektiven auf. Während Lise und Jon in der Unsicherheit leben, ob Lars noch lebt, erfährt der Leser durch Lars´ Innensicht, dass er mittlerweile in England Anker setzte, wo er mit Yvonne eine neue Liebe gefunden hat. Lars beschreibt sein fortwährendes Fernweh, seinen Aufbruch, seinen Neuanfang. Gleichzeitig schwingt immer auch Sehnsucht nach Heimat und Sohn in seinen Gedanken mit: „In meiner Kabine lege ich mich auf das harte Bett. Ich schließe die Augen und sehe die Insel: Überraschend erhebt sie sich aus dem Meer, so unglaublich wie eine Oase in der Wüste, aber vertraut. Sie ist Heimat, sie ist der einsamste Ort auf der Welt, und ich bin dort nie allein.“ (S.37)

Auch Martha kennt das Fernweh. Die Umstände haben sie aber in Tristan gehalten. Sie kümmert sich um ihre verwirrte Mutter, arbeitet dort als Lehrerin und ist dem kleinen Jon sehr zugetan. Sie wird von einem dunklen Geheimnis umwölkt, über das für den Leser immer mehr Details in intensiven, eindrücklichen Erinnerungen an die Oberfläche quellen. Martha ist mittlerweile mit Bert verheiratet, einem zurückgezogenen, stillen Mann. Beide wünschen sich vergeblich ein Kind. Die Ehe ist durch Marthas erlittene Verletzungen belastet, ohne dass sich das Paar sich darüber austauschen kann. „Warum ist ihnen das so schnell passiert, warum ist alles, was am Anfang gefunkelt hat, bereits verblasst?“ (S. 62)

Es tauchen weitere Figuren im Verlauf der Geschichte auf. Jon, der scharfe Beobachter, und die zwei genannten Paare bilden aber zusammen mit der einmaligen insularen Kulisse das Zentrum. Es geht um zwischenmenschliche Beziehungen und Verwicklungen auf so engem Raum, dass man sich kaum aus dem Weg gehen kann. Es geht um Liebe und verschmähte Liebe, um Hass, Verlust, Heimat, Fremdsein, um Sehnsucht und Fernweh, um Verantwortung, verpasste Chancen, Aufbruch und Neuanfang, um Schuld, Sühne und Tod. Die Themen sind komplex und vielfältig. Die Handlung wird dabei von zwei wesentlichen Ereignissen getrieben: einerseits von dem an Martha verübten Verbrechen, das mit Schweigen bedeckt, aber nie bestraft wird. Andererseits von dem Vulkanausbruch, der nicht nur Lava auswirft, sondern die Gemüter der Menschen in Wallung versetzt und zum Handeln zwingt. Kurtto setzt dabei bewusste Andeutungen, bleibt immer wieder vage, verbindet Gegenwart und Vergangenheit, bis sich zum Ende hin das komplette Bild für den Leser erschließt. Man darf kontinuierlich aufpassen und mitdenken. Grandios!

Marianna Kurtto hat neben zwei Romanen bisher mehrere Gedichtbände vorgelegt. Man spürt ihre Nähe zur Lyrik sowie ihr großes dichterisches Talent in jeder Zeile dieses beeindruckenden Buches. Sie vermag Atmosphäre zu schaffen, sie beherrscht eine sehr poetische, bildgewaltige Sprache, in die man herrlich eintauchen und sie genießen kann. Dabei ist sie niemals platt oder oberflächlich. Sie beleuchtet ihre Charaktere aus verschiedenen Blickwinkeln, sie lässt sie sich glaubwürdig entwickeln, sie gibt ihnen viele Facetten und psychologische Tiefe, sie zeigt bestehende Ambivalenzen auf. Denken und Handeln der Figuren spiegeln sich in der teilweise unwirtlichen, aber auch schönen Natur wider, die Sprache strahlt Wärme, Empathie und latente Melancholie aus. Die Metaphern sind ein Genuss. Wie ausgewogen, harmonisch und passgenau werden Gefühlslagen und Emotionen der Protagonisten beschrieben! Hier passt eins zum anderen.

Dazu kommen grandios konzipierte, tragfähige Handlungskomponenten, die den Leser zu fesseln verstehen. Die Dynamik steigert sich in der zweiten Hälfte immens und weiß zu überraschen. Fiktion verknüpft sich mit realen Begebenheiten. Dieser Ausgang ist unglaublich gut gelungen, er passt zu dem grandios strukturierten Roman, bei dem am Ende jedes Puzzleteil an seinen Platz rutscht. Die poetische, ruhige Sprache täuscht nicht über die anschwellende Dramatik hinweg. Ein Buch, dem auch eine zweite Lektüre nicht schadet und das sich hervorragend für Lesekreise eignet.

Unbedingt erwähnenswert ist die übersetzerische Meisterleistung von Stefan Moster, dem es gelungen ist, die poetische Sprachmelodie aus dem Finnischen perfekt ins Deutsche zu übertragen. Ein Roman, bei dem einfach alles stimmt, der mich völlig bezaubert hat und dem ich deshalb ganz viele Leser wünsche!