Rezension (5/5*) zu Tristania von Marianna Kurtto

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
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49
Brandenburg
Wenn die Heimat eine Insel ist.

Kurzmeinung: Ein einfühlsamer, sanfter Roman, dennoch kraftvoll und einfach wunderschön.


Marianna Kurtto, eine finnische Schriftstellerin, die wir in Deutschland viel zu spät entdecken, hat sich in ihrem Roman „Tristania“ (erschienen in Finnland 2017) von dem Vulkanausbruch, der 1961 die Insel Tristan da Cunha heimsuchte und die wenigen Einwohner zur vorübergehenden Evakuierung zwang, inspirieren lassen.

Von dieser kleinen Inselgruppe habe ich noch nie etwas gehört. Damit wir etwas lernen, zitiere ich aus Wikipedia: „Zu dem Archipel Tristan da Cunha gehören auch die Insel Gough sowie die unbewohnten Inseln Inaccessible Island, Nightingale Island, Middle Island und Stoltenhoff Island.“ Inaccessible Island, dieser Name sagt schon alles.

Auf Tristan ist es wunderschön. Die Insel ist zwar wirklich klein, aber grün und voller Farben und Gerüche. Man hält Schafe und fängt Fische. Es ist windig bis stürmisch und sehr feucht. Nur wenige Menschen wohnen dort. Denn Kargheit und Armut begleiten das Inselidyll. Das hält nicht jeder aus. Wer es aber aushält, bildet einen besonderen Menschenschlag.

Der Kommentar:
Marianna Kurtto bildet die Schönheit der winzigen Vulkaninsel mit ihrer Sprache ab. Man wird durch die Poesie ihrer Worte wie ein Vogel emporgetragen in die Lüfte und lässt sich von den Klippen stürzen. Die Wiesen sind üppig, das windgepeitschte Meer ist grünblau, der alles beherrschende Vulkan in der Mitte der Insel ist von erschreckender Herrlichkeit. Der Weg dort hinauf ist der einzige lohnenswerte Spaziergang. Die Menschen selber sind wortkarg. Jeder kennt jeden. Jeder hat einen Hund. Man denkt, keiner könnte ein Geheimnis haben, alles liege in dieser kleinen Community offen zu Tage. Doch dem ist nicht so. In den verschlossenen Seelen der Einheimischen liegen seltsame Gedanken verborgen, Gedanken über das Leben und den Tod, über die Liebe, über die Heimat. Diese ergründet der Leser nach und nach mit den verschiedenen Icherzählern der Geschichte.

Die spannendste Figur des Romans ist Lars. Er ist ein Seemann, wie man ihn sich vorstellt. Und dann auch wieder nicht. Ihn hält es nicht auf der Insel, obwohl er mit Lise eine gute Ehe führt und einen Sohn hat, den er liebt. Obwohl, mit der Liebe ist es ja nicht immer einfach. Warum ist Jon, sein Sohn, so ganz anders als er? Aber zum Glück mögen sie beide Bücher, die sie wegen des mangelnden Nachschubs alle auswendig kennen. Lars ist Fischer, klar, jeder ist Fischer auf Tristan. „Wir kennen das Meer und wir lesen die Gedanken der Fische“, sagt er, „Wir töten sie mit Geschick und Liebe und verzehren sie wie Edelsteine, sie sind wertvoller als Gold“. Aber er ist auch Händler und auf „Dienstreise“ in England und Lise bleibt allein in der kleinen Community zurück. Jeder ahnt, dass Lars ein Doppelleben führt, aber keiner spricht es direkt aus. Vielleicht stimmt es auch gar nicht.

Heimat und Heimweh bilden den Grundtenor dieser Geschichte. Oder anders ausgedrückt, Fernweh und Heimweh. Wer von einer Insel stammt, wird sie nie ganz los. So geht es auch den Bewohnern von Tristan.

Fazit: Ich bin völlig verzaubert von diesem kleinen Roman, mit seiner langsamen, bilderreichen, lyrischen und einfühlsamen Sprache; diese Sprache gibt allen Protagonisten eine einzigartige Stimme, die obwohl einzigartig, dennoch einen ähnlichen Zungenschlag hat. Denn es ist die Stimme der Insel selber. Vor allem aber kommt durch die Sprache das Staunen vor der großartigen Natur unserer Erde zum Ausdruck. Von mir gibt es eine uneingeschränkte Leseempfehlung. Mein Lesehighlight 2022!

Kategorie: Literatur. Anspruch
Verlag, Mare, 2022
Lesehighlight.



 
Zuletzt bearbeitet:

Literaturhexle

Moderator
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2. April 2017
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Man wird durch die Poesie ihrer Worte wie ein Vogel emporgetragen in die Lüfte und lässt sich von den Klippen stürzen.
Wanda, so romantisch kenne ich dich gar nicht;)
Was eine feine, durchdachte, schöne Rezension. Würde ich das Buch nicht mitgelesen haben, wäre ich jetzt Tristan-infiziert. Wunderbar!
Meine Rezi wird ganz anders, aber in der Wertung sind wir uns einig: Lesehighlight!