Rezension (5/5*) zu Treue: Roman von Hernan Diaz

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.592
21.818
49
Brandenburg
Buchinformationen und Rezensionen zu Treue: Roman von Hernan Diaz
Kaufen >
Von der Macht des Geldes

Kurzmeinung: Endlich mal wieder ein großartiger Erzähler am Werk!


Hernan Diaz hat in seinem neuen Roman „Treue“ die Finanzwelt aufs Korn genommen. Aber einmal so richtig. Haupt-Handlungszeitraum und Handlungsort sind die 1920iger in New York, Höhepunkt dieser Zeit ist der Börsencrash 1929, doch gibt es chronologische Ausschläge des Romans bis in die Neuzeit. Die Thematik des Romans hat nur entfernt etwas mit „Treue“ zu tun, man muss tief graben, um derartige Beziehungen herzustellen, es geht um Weltsicht und um Geld.

Im Mittelpunkt des Romans steht ein Finanzhai, ein Finanzmagnat, der Probleme mit der Weltsicht hat, beziehungsweise damit, wie ihn die Welt sieht und der mit allen möglichen Mitteln versucht, das Bild, das die Öffentlichkeit von ihm hat, in seinem Sinne zurechtzurücken. Ist er nicht eher ein Wohltäter der Menschheit, der Arbeitsplätze bereitstellt und letztlich das ganze Land finanziert? Davon zeugen auch zahlreiche Wohltätigkeitsorganisationen und Stiftungen, die seine Familie gründete. Er, eine Stütze der Menschheit, soll zum Börsencrash 1929 beigetragen haben und Tausende von Menschen in den Ruin getrieben haben. Das ist glatter Rufmord. Zum Beweis führt der Financier unter anderem seine Familienchronik an, die bis ins 17. Jahrhundert zurückreicht, sie weist ehrenwerte Geschäftsmänner und Gentlemen auf, die in Tabak und Baumwolle machten, mit Bereitschaft zum Risiko klug investierten und schließlich Privatbanken gründeten. Und was wäre die moderne Gesellschaft ohne Bänker? Sie würde nicht existieren können.

Der Kommentar:
Wie Hernan Diaz mit den unterschiedlichsten stilistischen Mitteln, auf humorige und geistreich-listige Weise seinem Thema beikommt, die Finanzwelt abbildet und seinen Protagonisten in seinen Bemühungen, sich rechtzufertigen und reinzuwaschen, entlarvt, ist ein einziges Lesevergnügen. Macht korrumpiert, das ist eine alte Weisheit. Aber auch das Bonmot „Geld regiert die Welt“ stimmt. Wer schreibt die Geschichte der Reichen? Doch die Reichen selber.

Hernan Diaz literarischer Stil ist hochpreisig, hochwertig. Er schreibt Aphorismen in seinen Text, „der feine Herr von heute ist der Emporkömmling von gestern“, es ist eine Freude, sie zu entdecken; er baut ein Rätsel auf, das der Leser lösen muss – was ist Wahrheit? - er ist lyrisch „das letzte Leuchten des Sommers, vermischt sich mit den ersten Atemzügen des Herbstes“ und seine Protagonisten bestechen bis in die Nebenfiguren hinein. Mit der seitens der Leserschaft vielbeschworenen und geforderten Tiefe und Originalität, hat Diaz keine Probleme, seine Textkomposition ist zudem ausgefallen und gewieft. Diaz ist witzig und spart nicht mit Seitenhieben bezüglich der Gesellschaft; über die moderne Musik lässt er seinen Protagonisten beispielsweise sagen „der Großteil der Musik klang wie der Moment, wenn die Musiker ihre Instrumente stimmen.“ Bravo! Last but not least: Diaz ist unterhaltsam! (Was zu beweisen war).

Authentisch muss sein Text nicht sein, es liegt ihm fern, ein genaues, reales Abbild von Börsengeschäften zu liefern, so wie sie sind - und dennoch bekommt man einen Einblick in das Denken und das Leben von denen, die denken, sie seien der Nabel der Welt. Wer wissen will, wie Bankgeschäfte „in echt“ und in allen Details funktionieren, muss ein Fachbuch lesen. Oder das WallStreetJournal.

Fazit: Hernan Diaz, geboren 1973 in Argentinien und recht eigentlich ein Weltenbürger, heute in New York ansässig, ist ein großartiger Erzähler, der alle Fähigkeiten mitbringt, damit ein Roman gelingt. Er weiß, wie es funktioniert und tut es uns mit überdies mit diesen Worten kund: „die Erwartungen und Ansprüche des Lesers sind dazu da, gezielt durcheinandergebracht und untergraben zu werden.“ Wer Diaz auf dieser Grundlage liest, wird nicht enttäuscht werden. Ganz im Gegenteil. Die volle Punktzahl ist selbstverständlich.

Lesehighlight. Leseempfehlung!

Kategorie: Literatur mit Anspruch
Verlag: Hanser 2022

Auf der Longlist des Man Booker Prize, 2022.

 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.435
49.835
49
Ich habe es etwas anders empfunden, sehe die Finanzwelt nicht aufs Korn genommen. Aber das macht nix!
Sprachlos bin ich aufgrund deiner wirklich gelungenen, fulminanten, aussagestarken (und doch nicht spoilernden) Rezension mit dem typischen Wanda-Pfiff!!!

6/5 Sterne dafür;)
 
  • Stimme zu
Reaktionen: Emswashed