Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Mit verbundenen Augen Kunst betrachten...... und sich dabei ganz und gar auf den Erzähler verlassen... so fühlte ich mich in den drei Erzählungen von Ingo Schulze.
Er hat mich nicht vorgewarnt, das war sehr geschickt. Vielleicht hat er aber auch mehr Vorwissen bei mir vorausgesetzt, denn dann hätte ich erkennen müssen, dass der Buchtitel auch der Titel des Gemäldes von Eugène Delacroix ist, ein Ausschnitt davon ist auf dem Schutzumschlag zu sehen. So aber trieb mich, getriggert vom Wort "Irrenhaus", die Neugier für menschliche Abgründe.
Das kalte Wasser schlug also ungehemmt über mir zusammen, nach meinem Sprung in das unbekannte Nass "Kunst".
Die erste Erzählung, "Das Deutschlandgerät" rang mit mir um Verständnis. Bei der Beschreibung der künstlerischen Reinstallation eines Geräts zum Wiederaufstellen von entgleisten Zügen von Reinhard Mucha, gingen mir Bilder durch den Kopf, vermischt mit meiner eigenen Aufgabe einer Haushaltsauflösung, die sich im Nachhinein wenig deckungsgleich zum Original zeigten. Dennoch ließen mich Schulzes Ausführungen, verknüpft mit der Geschichte des Ostdissidenten , der in dieser Kunst sein Verständnis mit sich und seinem Werk endlich ergründet zu haben glaubt, mit der Gewissheit zurück, dass auch ich die Sachen nur neu arrangieren muss, damit Altes wieder Sinn macht, ohne gänzlich zu verschwinden. Die ganze Erzählung ist ein einziger Brief, der zugleich eine Versäumnisentschuldigung, Aufgabenerfüllung und Geschichte für den Leser ist.
"Tasso im Irrenhaus", ist die zweite Geschichte und Auslöser für meine Bereitschaft, das Buch zu lesen. Der Erzähler soll in ein paar Wochen über Delacroixs Tasso eine Rede halten. Die Arbeit daran stockt und so beschließt er, sich das Bild nicht im Katalog, sondern im Original in der Schweiz anzuschauen. Seine Eindrücke und Erlebnisse bei der Anreise, die Betrachtungen im Museum und schließlich die Gespräche mit dem Mann dort, der sich ihm aufdrängt, hält er in seinem Journal (Tagebuch - der Text ist Frank Witzel gewidmet - ein Schelm, wer unschuldige Absicht dahinter vermutet) fest, und so entsteht eine Mischung aus Bildbeschreibung und philosophische Betrachtungen zur Schweiz, die Kunst und Politik dynamisch miteinander verwebt.
Die letzte Novelle "Die Vorlesung" führt Ingo Schulze ins Hospiz zum sterbenden Maler Johannes Grützke. Aber anstatt einer gedrückten letzten Unterredung unter vier Augen, erwartet Schulze vor Ort eine illustre, heitere Gesellschaft, die sich über Kunst streitet, während der Todeskandidat eine Zeichnung eines vielköpfingen Drachens mit den Gesichtern seiner Besucher anfertigt. Irritiert und verärgert will Schulze sich früh entfernen, wird dann aber doch in diese so ganz und garnicht trauernde Versammlung hineingezogen.
Die drei wiederveröffentlichten Geschichten von Ingo Schulze kumulieren für mich in der Einsicht, dass wohl nicht alles nach Plan und Vorstellung verläuft, dass so manche Einsicht erst durch das Unvorhergesehene gewonnen werden kann und nur dem, der innehält und nicht gleich fort- oder weiterrennt, sich das Fenster zum Größeren öffnet. Die angedeutetetn Klappen auf dem Titelbild mögen ein Symbol dafür sein. Für mich war es ein Ausszeit aus der Alltagshektik und ein wunderbarer Einblick in die Kunstwelt durch Schulzes Augen. Verführerisch und wohltuend.
Lesern von "Tasso im Irrenhaus: Erzählungen" gefiel auch...
Melnitz
von: Charles Lewinsky
Betrug: Roman
von: Zadie Smith
In die Arme der Flut: Roman
von: Gerard Donovan