Rezension Rezension (5/5*) zu Tasso im Irrenhaus: Erzählungen von Ingo Schulze

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Langweilig für Kunstbanausen und wertvoll für Kenner.

In dem Bändchen „Tasso im Irrenhaus“ beschreibt Ingo Schulze eloquent drei besondere Kunstwerke. Am besten ist es, man hat sie schon einmal irgendwo gesehen, die Namen der Künstler sind einem geläufig oder man sollte zumindest gerne in Museen für gestaltende und bildende Kunst gehen. Oder sich danach sehnen, so ein Kunstwerk zu besitzen.

Für alle Leute, die sich nicht für Kunst interessieren, ist das Büchlein eher nichts. Es ist auch kein sogenanntes Einsteigerbuch.

Aber wenn man sich dafür interessiert und vielleicht sogar einen Bezug zu den vorgestellten Künstlern oder ihren Kunstwerken hat, dann sind die drei Essays eine großartige schriftstellerische Leistung, die man durchaus mit Gewinn und Genuss lesen kann. Eigentlich handelt es sich ja um eine Zusammenführung von beiden Genres. Die Beschreibungen sind Essays und das Drumrum, ihre Einbindung in eine Begebenheit, machen die drei Texte zu Erzählungen. Aber Essay ist drin.

Die erste Erzählung widmet sich einer sogenannten Installation. Akribisch beschreibt Schulze Reinhard Muchas (geb. 1950) Konzeptkunstwerk „Das Deutschlandgerät“.

„Sein erstes Kunstwerk war 1978 kein Bild und keine Skulptur, sondern eine Mauer aus Hohlblocksteinen. Niemand identifizierte sie als Kunst, zumal Kommilitonen dort ihre eigenen Sachen aufhängten. Damals wie heute beobachtet Mucha die Besucher: "Sie denken, das sei keine Kunst. Es sieht eben nicht sofort wie Kunst aus. Das ist die Schwierigkeit. Ich spiele mit der Grenze zwischen Ästhetik und Realität." sagte Mucha. (Helga Meister, Artikel in: Westdeutsche Zeitung, 2009)

Weiter schreib Helga Meister: „Warum aber nennt er sein Werk Deutschlandgerät? Seine Antwort: "Deutschlandgerät ist ein hydraulisches Werkzeug, um schwere Lasten anzuheben oder Schienenfahrzeuge wieder auf die Gleise zu stellen. In der Umbruchzeit nach 1989 war der Titel eine Anspielung auf die politische Situation in Deutschland."

Warum zitiere ich hier Helga Meister anstatt Ingo Schulze, der so ausführlich darüber schreibt, während Helga Meisters Text eine veranschlagte Lesezeit von 2 Minuten aufweist?

Weil ich Helga Meisters Beitrag sofort verstehe, aber Ingo Schulzes ellenlange Beschreibung mich fast zu Tode langweilt. Allerdings, und das macht die Kunstbeschreibung zur Erzählung, stellt Schulze dem Kunstwerk Muchas den DDR-Flüchtling B.C. entgegen oder zur Seite, der dieses Kunstwerk liebt und ihm, Schulze erklärt. B.C. ist selber ein Künstler, freilich einer, der unter der Fuchtel seiner Frau Elizabeta steht. So erscheint es. Aber der erste Blick täuscht. Man muss einen zweiten Blick werfen. Dann erkennt man das Wesentliche. So mag es auch mit dem Ausstellungsgegenstand „Das Deutschlandgerät“ sein. Man riskiere einen zweiten Blick. Allerdings ist Konzeptkunst wirklich Geschmacksache.

Die zweite Darstellung beziehungsweise Beschreibung eines Kunstwerks fesselt mehr. Es handelt sich um ein Gemälde von François Delacroix, dessen Titel „Tasso im Irrenhaus“ gleichzeitig titelgebend für Schulzes Buch ist.

Wiederum beschreibt Ingo S. das Werk akribisch, was einen durchaus wieder langweilen könnte. Man kanns aber auch im Internet angucken.

Gleichzeitig zu dem Gemälde namens "Tasso im Irrenhaus" zieht Schulze Parallelen zu anderen antiken Künstlern, zu Torquino Tasso, einem italienischer Dichter von anno dunnemal und zu Giacomo Leopardi, das ist ebenfalls ein italienischer Literat von anno dunno. Wohlwollend nehmen diverse Leser die Schließung ihrer Bildungslücken an.

Im dritten Bespiel widmet sich Ingo S. wieder der Neuzeit, einem zeitgenössischen Künstler, dem Maler Johannes Grützke. Die Beschreibung des Kunstwerks ist Essay, der Besuch im Hospiz und die Gespräche des Sterbenden mit seinen Eleven über Kunst, ist wieder Erzählung. Das Kunstwerk ist betitelt mit "Die Vorlesung".

Für Kunstverständige und Bildungsbürger also, schreibt Ingo S. Für dieses Mal. Muss auch mal sein und wird honoriert. Für Kunstbanausen ist das Bändchen grauenhaft langweilig. So what? Lesen wir derweil etwas anderes von Ingo S. Er kann unterhaltsame Sachen, die nicht weniger brillant sind.

Fazit: Feinsinnig, bildungsintensiv. Die Zusammenführung von Essay und Erzählung ist brillant. Auf seine eigene Art genial.

Kategorie: Kunst. Essays. Erzählung.
Verlag: dtv. 2021


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Du siehst mich überrascht! Ich fasse es nicht. Waren nicht drei oder gar zwei Sterne anberaumt?
Wenn ich zu freundlich in der Bewertung bin, weil ich das Gefühl habe, im (für mich) falschen Buch gelandet zu sein, kriege ich Schimpfe. Und nun das!
Deine Rezension ist allerdings brillant! Und ja, man kann die Güte durchaus würdigen - auch wenn man kein Kunstkenner ist. Wobei ich dennoch nicht verstehe, warum man diese drei alten Geschichten jetzt ausgegraben hat.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Wobei ich dennoch nicht verstehe, warum man diese drei alten Geschichten jetzt ausgegraben hat.
So ganz genau wie ich ein Buch finde, weiß ich erst beim Rezischreiben, wenn der Bauch durch den Kopf ergänzt wird.

Schaffenspause für den Künstler - aber man will nicht, dass er vom Publikum vergessen wird?