Rezension Rezension (5/5*) zu Sumpffieber von James Lee Burke.

Literaturhexle

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2. April 2017
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49
Kontrastreicher Spannungsroman mit Niveau

„Nur zweimal in meinem Leben hatte ich eine solche Morgendämmerung erlebt: einmal in Vietnam, als auf einer Nachtpatrouille eine Mine vor mir detoniert war und ihre Leuchttentakel um meine Oberschenken geschlungen hatte, und das andere Mal, Jahre davor, draußen vor Franklin, Louisianna, als mein Vater und ich die Leiche eines Gewerkschaftlers entdeckt hatten, den man mit 16-Penny-Nägeln an Fuß- und Handgelenken an eine Scheunenwand genagelt hatte. (Erster Satz, S. 5)

Der Gewerkschaftler hieß Jack Flynn. Sein mysteriöser Tod wurde damals nie richtig aufgeklärt, ebenso wenig wie der Mord an zwei jungen Weißen, die angeblich eine Farbige vergewaltigt haben sollten. Beide Fälle hat Sheriff Dave Robicheaux (Ich-Erzähler) nicht vergessen. Als nun, Jahrzehnte später, die Tochter Flynns und zwischenzeitlich berühmte Fotografin, Megan Flynn, wieder in New Iberia auftaucht und Fragen stellt, erscheinen die Morde von einst in einem neuen Licht. Megan setzt sich vehement für Cool Breeze Broussard ein, der im Bezirksgefängnis einsitzt. Offensichtlich wird er dort vom sadistischen Gefängnisverwalter Guidry schikaniert. Auch das FBI schickt eine Agentin: Man hofft, durch Broussard an Informationen über weitere Drahtzieher zu kommen. Davor wiederum scheinen andere in Angst und Schrecken versetzt zu werden, denn Broussard entgeht nur knapp einem Anschlag. Was weiß Broussard, was verheimlicht er? Hat man zunächst den Eindruck, bei dem Inhaftierten handele es sich um ein undurchsichtiges Subjekt, so muss man diese Ansicht schnell revidieren. Cool Breeze hat schon viel Ungerechtigkeit erfahren müssen und leidet unglaublich unter dem Tod seiner Frau, die sich vor vielen Jahren offensichtlich das Leben nahm. Damit verbindet ihn eine Schuld, die ihn nicht mehr ruhen lässt.

Dieses Eingangsszenario versteht Burke meisterhaft auszuweiten. Er beherrscht sein Handwerk dabei grandios. Alles scheint miteinander in Verbindung zu stehen. Der Plot ist komplex, viele Figuren werden eingeführt. Es gibt den reichen weißen Filmguru, den untergetauchten Schwerenöter, es gibt gepeinigte Frauen beider Hautfarben, mafiöse Strukturen uvm. Keine Figur ist einfach strukturiert, manche hat Marotten, die man auch mal belächeln kann. Nur gut oder nur böse scheint es bei Burke nicht zu geben. Auch Schwarze haben ihre Schattenseiten, ebenso wie es gute Weiße gibt. Allerdings im tiefsten Süden der USA nicht viele. Der Autor zeigt uns eine Wirklichkeit, die geprägt ist von jahrelang praktiziertem Hass und latentem Rassismus. Diese zeigen sich in den gesellschaftlichen Strukturen, im Miteinander, in der Ungleichheit vor dem Rechtssystem. Das ist bedrückend, aber auch erschreckend aktuell angesichts des jüngsten Polizeimordes in Minneapolis und seiner Folgen (Mai/Juni 2020). Noch immer scheint die schwarze Bevölkerung unterdrückt zu werden, hat keinen Zugang zu Bildung und lebt in großer Armut.

Der Leser ist gefordert. Burke legt verschiedenen Handlungsstränge aus, äußert Vermutungen, verwirft sie wieder. Man verfolgt eine Mischung aus Legenden, alten Geheimnissen, unaufgeklärten Gewaltverbrechen und dem aktuellen Fall. Der Roman hat definitiv keine Längen, Langeweile ist ein Fremdwort. Allerdings gibt es einiges an Brutalität, Gewalt und Action im Buch. Zart besaitet sollte man diesbezüglich nicht sein. Mehrere Tote säumen die 455 Seiten des Romans. Manches Opfer hat den Tod mehr als verdient, andere nicht. Die ganze Ermittlung fühlt sich wie ein spannendes Puzzlespiel an. Robicheaux und sein Freund Clete Purcel fügen Teil für Teil aneinander. Die Auflösung gibt es erst ganz am Schluss – wie es sich für einen guten Kriminalroman gehört, ist sie unvorhersehbar und überraschend. Allerdings trägt sie auch der zuvor geschilderten Realität Rechnung.

Als ganz großes Plus habe ich den Schreibstil Burkes empfunden. Er schreibt sehr bildgewaltig. Man kann sich nicht nur die Figuren, sondern auch diese einzigartige Fluss- und Sumpflandschaft, in der die Menschen leben, bildlich vorstellen. Der Autor muss diese Gegend kennen und lieben. Seine Schilderungen sind poetisch und naturverbunden, hier ein Beispiel:
„Kurz bevor die Sonne über dem Golf von Mexiko aus dem Wasser stieg, legte sich der Wind plötzlich, der die ganze Nacht schäumend die Wellenkämme aufgepeitscht hatte, und der Himmel war mit einem Mal blank und bleich wie ein polierter Knochen, als habe man die Atmosphäre zur Ader gelassen und jeder Farbe beraubt.“

Robicheaux hat auch ein Privatleben. Mit einer Ehefrau, einer Adoptivtochter, einem Köderladen mit Bootsverleih. Hier geht es meist ruhig zu, hierhin zieht sich der Sheriff zurück, wenn er nachdenken muss. Diese Passagen wirken friedlich, bringen Alltäglichkeit ins Geschehen und wirken zusammen mit den Naturbeschreibungen herrlich kontrastierend zum turbulenten Mix aus Action und Gewalt.

Ich habe selten einen dermaßen sprachgewaltigen, intelligenten und gleichzeitig spannenden Kriminalroman gelesen. Völlig zu Recht kann man James Lee Burke zu den Klassikern dieses Genres zählen. Der vorliegende Roman wurde bereits vor über 20 Jahren erstveröffentlicht und nun in einer überarbeiteten Neuauflage in hochwertiger Klappenbroschur bei Pendragon neu herausgegeben. Der Bestseller-Autor hat zahlreiche Auszeichnungen und Preise gewonnen, unter anderem auch den Deutschen Krimipreis 2015.

Für mich war es der erste Roman dieses Schriftstellers, es wird gewiss nicht der letzte sein. Große Lese-Empfehlung!


 

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Der Gewerkschaftler hieß Jack Flynn. Sein mysteriöser Tod wurde damals nie richtig aufgeklärt, ebenso wenig wie der Mord an zwei jungen Weißen, die angeblich eine Farbige vergewaltigt haben sollten. Beide Fälle hat Sheriff Dave Robicheaux (Ich-Erzähler) nicht vergessen. Als nun, Jahrzehnte später, die Tochter Flynns und zwischenzeitlich berühmte Fotografin, Megan Flynn, wieder in New Iberia auftaucht und Fragen stellt, erscheinen die Morde von einst in einem neuen Licht. Megan setzt sich vehement für Cool Breeze Broussard ein, der im Bezirksgefängnis einsitzt. Offensichtlich wird er dort vom sadistischen Gefängnisverwalter Guidry schikaniert. Auch das FBI schickt eine Agentin: Man hofft, durch Broussard an Informationen über weitere Drahtzieher zu kommen. Davor wiederum scheinen andere in Angst und Schrecken versetzt zu werden, denn Broussard entgeht nur knapp einem Anschlag. Was weiß Broussard, was verheimlicht er? Hat man zunächst den Eindruck, bei dem Inhaftierten handele es sich um ein undurchsichtiges Subjekt, so muss man diese Ansicht schnell revidieren. Cool Breeze hat schon viel Ungerechtigkeit erfahren müssen und leidet unglaublich unter dem Tod seiner Frau, die sich vor vielen Jahren offensichtlich das Leben nahm. Damit verbindet ihn eine Schuld, die ihn nicht mehr ruhen lässt.

Dieses Eingangsszenario versteht Burke meisterhaft auszuweiten. Er beherrscht sein Handwerk dabei grandios. Alles scheint miteinander in Verbindung zu stehen. Der Plot ist komplex, viele Figuren werden eingeführt. Es gibt den reichen weißen Filmguru, den untergetauchten Schwerenöter, es gibt gepeinigte Frauen beider Hautfarben, mafiöse Strukturen uvm. Keine Figur ist einfach strukturiert, manche hat Marotten, die man auch mal belächeln kann. Nur gut oder nur böse scheint es bei Burke nicht zu geben. Auch Schwarze haben ihre Schattenseiten, ebenso wie es gute Weiße gibt. Allerdings im tiefsten Süden der USA nicht viele. Der Autor zeigt uns eine Wirklichkeit, die geprägt ist von jahrelang praktiziertem Hass und latentem Rassismus. Diese zeigen sich in den gesellschaftlichen Strukturen, im Miteinander, in der Ungleichheit vor dem Rechtssystem. Das ist bedrückend, aber auch erschreckend aktuell angesichts des jüngsten Polizeimordes in Minneapolis und seiner Folgen (Mai/Juni 2020). Noch immer scheint die schwarze Bevölkerung unterdrückt zu werden, hat keinen Zugang zu Bildung und lebt in großer Armut.

Der Leser ist gefordert. Burke legt verschiedenen Handlungsstränge aus, äußert Vermutungen, verwirft sie wieder. Man verfolgt eine Mischung aus Legenden, alten Geheimnissen, unaufgeklärten Gewaltverbrechen und dem aktuellen Fall. Der Roman hat definitiv keine Längen, Langeweile ist ein Fremdwort. Allerdings gibt es einiges an Brutalität, Gewalt und Action im Buch. Zart besaitet sollte man diesbezüglich nicht sein. Mehrere Tote säumen die 455 Seiten des Romans. Manches Opfer hat den Tod mehr als verdient, andere nicht. Die ganze Ermittlung fühlt sich wie ein spannendes Puzzlespiel an. Robicheaux und sein Freund Clete Purcel fügen Teil für Teil aneinander. Die Auflösung gibt es erst ganz am Schluss – wie es sich für einen guten Kriminalroman gehört, ist sie unvorhersehbar und überraschend. Allerdings trägt sie auch der zuvor geschilderten Realität Rechnung.

Als ganz großes Plus habe ich den Schreibstil Burkes empfunden. Er schreibt sehr bildgewaltig. Man kann sich nicht nur die Figuren, sondern auch diese einzigartige Fluss- und Sumpflandschaft, in der die Menschen leben, bildlich vorstellen. Der Autor muss diese Gegend kennen und lieben. Seine Schilderungen sind poetisch und naturverbunden, hier ein Beispiel:
„Kurz bevor die Sonne über dem Golf von Mexiko aus dem Wasser stieg, legte sich der Wind plötzlich, der die ganze Nacht schäumend die Wellenkämme aufgepeitscht hatte, und der Himmel war mit einem Mal blank und bleich wie ein polierter Knochen, als habe man die Atmosphäre zur Ader gelassen und jeder Farbe beraubt.“

Robicheaux hat auch ein Privatleben. Mit einer Ehefrau, einer Adoptivtochter, einem Köderladen mit Bootsverleih. Hier geht es meist ruhig zu, hierhin zieht sich der Sheriff zurück, wenn er nachdenken muss. Diese Passagen wirken friedlich, bringen Alltäglichkeit ins Geschehen und wirken zusammen mit den Naturbeschreibungen herrlich kontrastierend zum turbulenten Mix aus Action und Gewalt.

Ich habe selten einen dermaßen sprachgewaltigen, intelligenten und gleichzeitig spannenden Kriminalroman gelesen. Völlig zu Recht kann man James Lee Burke zu den Klassikern dieses Genres zählen. Der vorliegende Roman wurde bereits vor über 20 Jahren erstveröffentlicht und nun in einer überarbeiteten Neuauflage in hochwertiger Klappenbroschur bei Pendragon neu herausgegeben. Der Bestseller-Autor hat zahlreiche Auszeichnungen und Preise gewonnen, unter anderem auch den Deutschen Krimipreis 2015.

Für mich war es der erste Roman dieses Schriftstellers, es wird gewiss nicht der letzte sein. Große Lese-Empfehlung!



Tolle Rezension. Und weißt du, wozu sie führt? Sie führt dazu, dass ich demnächst den ersten Band der Reihe um Dave R. lesen werde. „Neonregen“ ... hier scheint wirklich ein vielversprechender und entdeckenswerter Autor am Werk zu sein… Danke für den Tipp.
 

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Der Gewerkschaftler hieß Jack Flynn. Sein mysteriöser Tod wurde damals nie richtig aufgeklärt, ebenso wenig wie der Mord an zwei jungen Weißen, die angeblich eine Farbige vergewaltigt haben sollten. Beide Fälle hat Sheriff Dave Robicheaux (Ich-Erzähler) nicht vergessen. Als nun, Jahrzehnte später, die Tochter Flynns und zwischenzeitlich berühmte Fotografin, Megan Flynn, wieder in New Iberia auftaucht und Fragen stellt, erscheinen die Morde von einst in einem neuen Licht. Megan setzt sich vehement für Cool Breeze Broussard ein, der im Bezirksgefängnis einsitzt. Offensichtlich wird er dort vom sadistischen Gefängnisverwalter Guidry schikaniert. Auch das FBI schickt eine Agentin: Man hofft, durch Broussard an Informationen über weitere Drahtzieher zu kommen. Davor wiederum scheinen andere in Angst und Schrecken versetzt zu werden, denn Broussard entgeht nur knapp einem Anschlag. Was weiß Broussard, was verheimlicht er? Hat man zunächst den Eindruck, bei dem Inhaftierten handele es sich um ein undurchsichtiges Subjekt, so muss man diese Ansicht schnell revidieren. Cool Breeze hat schon viel Ungerechtigkeit erfahren müssen und leidet unglaublich unter dem Tod seiner Frau, die sich vor vielen Jahren offensichtlich das Leben nahm. Damit verbindet ihn eine Schuld, die ihn nicht mehr ruhen lässt.

Dieses Eingangsszenario versteht Burke meisterhaft auszuweiten. Er beherrscht sein Handwerk dabei grandios. Alles scheint miteinander in Verbindung zu stehen. Der Plot ist komplex, viele Figuren werden eingeführt. Es gibt den reichen weißen Filmguru, den untergetauchten Schwerenöter, es gibt gepeinigte Frauen beider Hautfarben, mafiöse Strukturen uvm. Keine Figur ist einfach strukturiert, manche hat Marotten, die man auch mal belächeln kann. Nur gut oder nur böse scheint es bei Burke nicht zu geben. Auch Schwarze haben ihre Schattenseiten, ebenso wie es gute Weiße gibt. Allerdings im tiefsten Süden der USA nicht viele. Der Autor zeigt uns eine Wirklichkeit, die geprägt ist von jahrelang praktiziertem Hass und latentem Rassismus. Diese zeigen sich in den gesellschaftlichen Strukturen, im Miteinander, in der Ungleichheit vor dem Rechtssystem. Das ist bedrückend, aber auch erschreckend aktuell angesichts des jüngsten Polizeimordes in Minneapolis und seiner Folgen (Mai/Juni 2020). Noch immer scheint die schwarze Bevölkerung unterdrückt zu werden, hat keinen Zugang zu Bildung und lebt in großer Armut.

Der Leser ist gefordert. Burke legt verschiedenen Handlungsstränge aus, äußert Vermutungen, verwirft sie wieder. Man verfolgt eine Mischung aus Legenden, alten Geheimnissen, unaufgeklärten Gewaltverbrechen und dem aktuellen Fall. Der Roman hat definitiv keine Längen, Langeweile ist ein Fremdwort. Allerdings gibt es einiges an Brutalität, Gewalt und Action im Buch. Zart besaitet sollte man diesbezüglich nicht sein. Mehrere Tote säumen die 455 Seiten des Romans. Manches Opfer hat den Tod mehr als verdient, andere nicht. Die ganze Ermittlung fühlt sich wie ein spannendes Puzzlespiel an. Robicheaux und sein Freund Clete Purcel fügen Teil für Teil aneinander. Die Auflösung gibt es erst ganz am Schluss – wie es sich für einen guten Kriminalroman gehört, ist sie unvorhersehbar und überraschend. Allerdings trägt sie auch der zuvor geschilderten Realität Rechnung.

Als ganz großes Plus habe ich den Schreibstil Burkes empfunden. Er schreibt sehr bildgewaltig. Man kann sich nicht nur die Figuren, sondern auch diese einzigartige Fluss- und Sumpflandschaft, in der die Menschen leben, bildlich vorstellen. Der Autor muss diese Gegend kennen und lieben. Seine Schilderungen sind poetisch und naturverbunden, hier ein Beispiel:
„Kurz bevor die Sonne über dem Golf von Mexiko aus dem Wasser stieg, legte sich der Wind plötzlich, der die ganze Nacht schäumend die Wellenkämme aufgepeitscht hatte, und der Himmel war mit einem Mal blank und bleich wie ein polierter Knochen, als habe man die Atmosphäre zur Ader gelassen und jeder Farbe beraubt.“

Robicheaux hat auch ein Privatleben. Mit einer Ehefrau, einer Adoptivtochter, einem Köderladen mit Bootsverleih. Hier geht es meist ruhig zu, hierhin zieht sich der Sheriff zurück, wenn er nachdenken muss. Diese Passagen wirken friedlich, bringen Alltäglichkeit ins Geschehen und wirken zusammen mit den Naturbeschreibungen herrlich kontrastierend zum turbulenten Mix aus Action und Gewalt.

Ich habe selten einen dermaßen sprachgewaltigen, intelligenten und gleichzeitig spannenden Kriminalroman gelesen. Völlig zu Recht kann man James Lee Burke zu den Klassikern dieses Genres zählen. Der vorliegende Roman wurde bereits vor über 20 Jahren erstveröffentlicht und nun in einer überarbeiteten Neuauflage in hochwertiger Klappenbroschur bei Pendragon neu herausgegeben. Der Bestseller-Autor hat zahlreiche Auszeichnungen und Preise gewonnen, unter anderem auch den Deutschen Krimipreis 2015.

Für mich war es der erste Roman dieses Schriftstellers, es wird gewiss nicht der letzte sein. Große Lese-Empfehlung!



Kontrastreicher Spannungsroman mit Niveau


„Nur zweimal in meinem Leben hatte ich eine solche Morgendämmerung erlebt: einmal in Vietnam, als auf einer Nachtpatrouille eine Mine vor mir detoniert war und ihre Leuchttentakel um meine Oberschenken geschlungen hatte, und das andere Mal, Jahre davor, draußen vor Franklin, Louisianna, als mein Vater und ich die Leiche eines Gewerkschaftlers entdeckt hatten, den man mit 16-Penny-Nägeln an Fuß- und Handgelenken an eine Scheunenwand genagelt hatte. (Erster Satz, S. 5)

Der Gewerkschaftler hieß Jack Flynn. Sein mysteriöser Tod wurde damals nie richtig aufgeklärt, ebenso wenig wie der Mord an zwei jungen Weißen, die angeblich eine Farbige vergewaltigt haben sollten. Beide Fälle hat Sheriff Dave Robicheaux (Ich-Erzähler) nicht vergessen. Als nun, Jahrzehnte später, die Tochter Flynns und zwischenzeitlich berühmte Fotografin, Megan Flynn, wieder in New Iberia auftaucht und Fragen stellt, erscheinen die Morde von einst in einem neuen Licht. Megan setzt sich vehement für Cool Breeze Broussard ein, der im Bezirksgefängnis einsitzt. Offensichtlich wird er dort vom sadistischen Gefängnisverwalter Guidry schikaniert. Auch das FBI schickt eine Agentin: Man hofft, durch Broussard an Informationen über weitere Drahtzieher zu kommen. Davor wiederum scheinen andere in Angst und Schrecken versetzt zu werden, denn Broussard entgeht nur knapp einem Anschlag. Was weiß Broussard, was verheimlicht er? Hat man zunächst den Eindruck, bei dem Inhaftierten handele es sich um ein undurchsichtiges Subjekt, so muss man diese Ansicht schnell revidieren. Cool Breeze hat schon viel Ungerechtigkeit erfahren müssen und leidet unglaublich unter dem Tod seiner Frau, die sich vor vielen Jahren offensichtlich das Leben nahm. Damit verbindet ihn eine Schuld, die ihn nicht mehr ruhen lässt.

Dieses Eingangsszenario versteht Burke meisterhaft auszuweiten. Er beherrscht sein Handwerk dabei grandios. Alles scheint miteinander in Verbindung zu stehen. Der Plot ist komplex, viele Figuren werden eingeführt. Es gibt den reichen weißen Filmguru, den untergetauchten Schwerenöter, es gibt gepeinigte Frauen beider Hautfarben, mafiöse Strukturen uvm. Keine Figur ist einfach strukturiert, manche hat Marotten, die man auch mal belächeln kann. Nur gut oder nur böse scheint es bei Burke nicht zu geben. Auch Schwarze haben ihre Schattenseiten, ebenso wie es gute Weiße gibt. Allerdings im tiefsten Süden der USA nicht viele. Der Autor zeigt uns eine Wirklichkeit, die geprägt ist von jahrelang praktiziertem Hass und latentem Rassismus. Diese zeigen sich in den gesellschaftlichen Strukturen, im Miteinander, in der Ungleichheit vor dem Rechtssystem. Das ist bedrückend, aber auch erschreckend aktuell angesichts des jüngsten Polizeimordes in Minneapolis und seiner Folgen (Mai/Juni 2020). Noch immer scheint die schwarze Bevölkerung unterdrückt zu werden, hat keinen Zugang zu Bildung und lebt in großer Armut.

Der Leser ist gefordert. Burke legt verschiedenen Handlungsstränge aus, äußert Vermutungen, verwirft sie wieder. Man verfolgt eine Mischung aus Legenden, alten Geheimnissen, unaufgeklärten Gewaltverbrechen und dem aktuellen Fall. Der Roman hat definitiv keine Längen, Langeweile ist ein Fremdwort. Allerdings gibt es einiges an Brutalität, Gewalt und Action im Buch. Zart besaitet sollte man diesbezüglich nicht sein. Mehrere Tote säumen die 455 Seiten des Romans. Manches Opfer hat den Tod mehr als verdient, andere nicht. Die ganze Ermittlung fühlt sich wie ein spannendes Puzzlespiel an. Robicheaux und sein Freund Clete Purcel fügen Teil für Teil aneinander. Die Auflösung gibt es erst ganz am Schluss – wie es sich für einen guten Kriminalroman gehört, ist sie unvorhersehbar und überraschend. Allerdings trägt sie auch der zuvor geschilderten Realität Rechnung.

Als ganz großes Plus habe ich den Schreibstil Burkes empfunden. Er schreibt sehr bildgewaltig. Man kann sich nicht nur die Figuren, sondern auch diese einzigartige Fluss- und Sumpflandschaft, in der die Menschen leben, bildlich vorstellen. Der Autor muss diese Gegend kennen und lieben. Seine Schilderungen sind poetisch und naturverbunden, hier ein Beispiel:
„Kurz bevor die Sonne über dem Golf von Mexiko aus dem Wasser stieg, legte sich der Wind plötzlich, der die ganze Nacht schäumend die Wellenkämme aufgepeitscht hatte, und der Himmel war mit einem Mal blank und bleich wie ein polierter Knochen, als habe man die Atmosphäre zur Ader gelassen und jeder Farbe beraubt.“

Robicheaux hat auch ein Privatleben. Mit einer Ehefrau, einer Adoptivtochter, einem Köderladen mit Bootsverleih. Hier geht es meist ruhig zu, hierhin zieht sich der Sheriff zurück, wenn er nachdenken muss. Diese Passagen wirken friedlich, bringen Alltäglichkeit ins Geschehen und wirken zusammen mit den Naturbeschreibungen herrlich kontrastierend zum turbulenten Mix aus Action und Gewalt.

Ich habe selten einen dermaßen sprachgewaltigen, intelligenten und gleichzeitig spannenden Kriminalroman gelesen. Völlig zu Recht kann man James Lee Burke zu den Klassikern dieses Genres zählen. Der vorliegende Roman wurde bereits vor über 20 Jahren erstveröffentlicht und nun in einer überarbeiteten Neuauflage in hochwertiger Klappenbroschur bei Pendragon neu herausgegeben. Der Bestseller-Autor hat zahlreiche Auszeichnungen und Preise gewonnen, unter anderem auch den Deutschen Krimipreis 2015.

Für mich war es der erste Roman dieses Schriftstellers, es wird gewiss nicht der letzte sein. Große Lese-Empfehlung!



Boa... und seine Hackberry Holland Reihe klingt auch toll. Ich glaube, diesen Autor sollte ich wirklich kennen lernen.
 

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28. Oktober 2019
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Baden Württemberg
lieslos.blog
Wobei es durchaus Spaß macht, ab und an auch mal ´nen Verriss zu schreiben :p:D. Aber das ist bei mir sehr selten geworden...
... Spaß macht mir das eigentlich überhaupt nicht. Ich versuche nämlich, unbedingt gerecht zu bleiben. Und auch bei einem Buch, an dem man viel zu bemängeln hat, gibt es Positives. Und das sollte man auch in einem Verriss nicht vergessen zu erwähnen. Also ich finde es hat bei mir mehr mit Anstrengung, als mit Spaß zu tun. Eine positive Rezension macht Mühe und Spaß und eine negative Rezension ist anstrengend... für mich...
 

kingofmusic

Bekanntes Mitglied
30. Oktober 2018
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... Spaß macht mir das eigentlich überhaupt nicht. Ich versuche nämlich, unbedingt gerecht zu bleiben. Und auch bei einem Buch, an dem man viel zu bemängeln hat, gibt es Positives. Und das sollte man auch in einem Verriss nicht vergessen zu erwähnen. Also ich finde es hat bei mir mehr mit Anstrengung, als mit Spaß zu tun. Eine positive Rezension macht Mühe und Spaß und eine negative Rezension ist anstrengend... für mich...
Prinzipiell sehe ich es genau wie du; ich versuche auch immer eher das Positive zu betrachten. Meinen kreativsten Verriss habe ich mal zu einem Buch eines spanischen Autors geschrieben - in Form eines Briefes :D.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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König, du bist in deinen Rezis sowieso immer sehr kreativ. Selbst deine Verrisse sind überaus unterhaltsam :D

Es ist für mich nur unglaublich schwer in Worte zu fassen, wenn mir ein Buch NICHT gefallen hat. Oft liegt es am Stil, an der Vorhersehbarkeit, am Gewöhnlichen....
Ich kann aber doch einem Autor keinen Vorwurf daraus machen, dass er für das breite Publikum schreibt...
Also SUCHE ich nach Ansätzen und begründe dick und bräsig, dass das Buch für ANDERE vielleicht ein Volltreffer sein könnte....
Sehr anstrengend!
Deshalb halte ich mich aus mancher LR auch schweren Herzens raus, obwohl ich den Austausch an sich so sehr liebe.
 

Literaturhexle

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Was für eine mitreißende Rezension, liebes @Literaturhexle ! Ich habe mir das eBook direkt bestellt. Das gibt es gerade relativ günstig. Freu!!!
Das freut mich :)
Ich hätte den Roman aber auch zu dir wandern lassen. Er könnte eine Einstiegsdroge sein... James Lee Burke hat schließlich etliche Krimis dieser Art geschrieben. Nicht umsonst hat er zahlreiche Preise eingeheimst ;)
Bin gespannt auf dein Urteil!
 

MRO1975

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11. August 2018
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Das freut mich :)
Ich hätte den Roman aber auch zu dir wandern lassen. Er könnte eine Einstiegsdroge sein... James Lee Burke hat schließlich etliche Krimis dieser Art geschrieben. Nicht umsonst hat er zahlreiche Preise eingeheimst ;)
Bin gespannt auf dein Urteil!
Jetzt bin ich noch mehr gespannt auf das Buch. Danke auch für Dein Angebot! Das nächste Mal nehme ich es gern an. Auf dem Reader zu lesen hat aber auch den Vorteil, dass ich so nachts lesen kann, wenn mein Mann schläft. ;)
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Auf dem Reader zu lesen hat aber auch den Vorteil, dass ich so nachts lesen kann, wenn mein Mann schläft. ;)
Ich weiß das nur zu gut :D
Am liebsten habe ich beide Varianten zur Verfügung. Bei Kostbare Tage könnte ich das EBook über die Onleihe parallel beziehen, bei "Die wir liebten" habe ich es mir sogar zusätzlich gekauft, weil es so günstig war. Ich würde Bücher immer im Paket kaufen. Dann kommt man besser voran und brauchte nicht zwei Lektüren.
Kein und Aber hat das eine Zeitlang angeboten: man bekam einen Code mit dem HC, über den man sich einmalig das EBook laden konnte. Schade, dass sich das nicht durchgesetzt hat.
 

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Ich weiß das nur zu gut :D
Am liebsten habe ich beide Varianten zur Verfügung. Bei Kostbare Tage könnte ich das EBook über die Onleihe parallel beziehen, bei "Die wir liebten" habe ich es mir sogar zusätzlich gekauft, weil es so günstig war. Ich würde Bücher immer im Paket kaufen. Dann kommt man besser voran und brauchte nicht zwei Lektüren.
Kein und Aber hat das eine Zeitlang angeboten: man bekam einen Code mit dem HC, über den man sich einmalig das EBook laden konnte. Schade, dass sich das nicht durchgesetzt hat.
... Interessante Vorstellung, aber ich glaube, dass ich das nicht bräuchte. Mir reicht das eine oder das andere. Beziehungsweise, wenn ich ein ganz besonders tolles Werk auf den e-reader gelesen habe, dann brauche ich es unbedingt noch als Print Ausgabe für‘s Regal. Aber andersherum bräuchte ich nie eine Printausgabe als e-reader Exemplar. Entweder die Printausgabe ist toll, dann bleibt sie im Regal oder sie ist nicht besonders lesenswert, dann wird sie aussortiert.
 
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