Rezension (5/5*) zu Sturmhöhe von Emily Brontë

Christian1977

Bekanntes Mitglied
8. Oktober 2021
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Buchinformationen und Rezensionen zu Sturmhöhe von Emily Brontë
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Liebe, Tod und Heathcliff

Yorkshire, 1801: Als der neu zugezogene Mr. Lockwood seinem Mietsherrn Heathcliff einen ersten Besuch abstattet, wird er von diesem und dessen seltsamen Mitbewohner:innen der Wuthering Heights, der Sturmhöhe, nicht gerade freundlich empfangen. Doch wieso lebt dieser Heathcliff überhaupt zusammen mit dem jungen Hareton, der nicht sein Sohn ist? Und warum ist seine Schwiegertochter Cathy dermaßen schlecht gelaunt und hat offenbar überhaupt keine Verbindung zu einem der anderen Anwesenden? Als Lockwood sich von einer Krankheit erholen muss, erzählt ihm seine Haushälterin Nelly Dean die ganze unglaubliche Geschichte - und blickt dafür fast 40 Jahre zurück auf die Familie Earnshaw, deren beschauliches Leben durch die Aufnahme des Findelkinds Heathcliff eine dramatische Wendung erfuhr.

Vor etwa einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. In knalligem Rot ist nun Emily Brontës einziger Roman "Sturmhöhe" (Übersetzung: Siegfried Lang) erschienen und selten wirkte eine Farbwahl so angemessen wie in diesem Fall. Denn "Sturmhöhe" ist ein gewaltiger Ritt auf der Klaviatur aller menschlicher Emotionen. Und nicht nur Protagonist Heathcliff sieht auf seinem Rachefeldzug mehr als einmal Rot. Die Ausgabe verzichtet auf den Abdruck des in anderen Editionen üblichen Stammbaums, was Vor- und Nachteil zugleich ist. Zum einen sind die teilweise sehr ähnlichen Namen und Verwandtschaftsverhältnisse so komplex, dass man ohne den Stammbaum doch häufiger durcheinander gerät. Zum anderen nimmt der Stammbaum durch bestimmte Geburts-, Hochzeits- und Todesdaten auch einiges vorweg, wodurch der Überraschungseffekt etwas verpuffen würde.

Zunächst einmal ist es Emily Brontës Sprache, die auffallend schön ist und die Leser:innen unmittelbar teilhaben lässt an den Empfindungen Lockwoods, als dieser sich erstmals der rauen Landschaft der Heights nähert und auf eine unwirtliche Mischung aus Mooren, Heide und einem stetig wehenden Wind trifft. Die schillernden Naturbeschreibungen und die Einsamkeit des Anwesens lassen ihn beglückt ausrufen: "Der wahre Himmel für einen Menschenfeind!" Dass sich dieser für die Beteiligten als wahre Hölle entpuppt, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ahnen.

Äußerst gelungen ist auch die komplexe Erzählstruktur, die beim Erscheinen des Romans im Jahre 1847 - und damit einem Jahr vor Emily Brontës viel zu frühem Tod - als revolutionär galt. So erfahren wir es im informativen Nachwort von Susanne Ostwald. Das Besondere daran ist, dass sich Brontë hauptsächlich auf zwei unterschiedliche Erzählstimmen verlässt: Lockwood in der Rahmenhandlung und eben Nelly Dean in den Rückblicken. Beide schildern völlig subjektiv ihre Eindrücke und man muss ihnen als Leser:in vertrauen, um das ganze Drama für bare Münze zu nehmen. Vor allem mit Lockwood geht die Leserschaft eine Art Symbiose ein, denn wenn dieser den Heights und ihren Bewohner:innen am Ende des Romans einen weiteren Besuch abstattet, sieht er die Figuren eben mit genau denselben Augen wie die Leser:innen. Ein äußerst gelungener Schachzug der Autorin, die in weiteren Verschachtelungen der Erzählstruktur ihr großes Können beweist, indem sie beispielsweise Briefe oder Zitate der handelnden Figuren geschickt in die Erzählungen Nellys einwebt und dadurch für Abwechslung, Spannung und eine permanente Aufmerksamkeit der Leser:innen sorgt.

Ein weiterer Pluspunkt sind die äußerst komplexen und ambivalenten Figuren. So gibt es wohl keinen der Charaktere, der durch sein Fehlverhalten nicht den Zorn der anderen Figuren und der Leser:innen auf sich zieht. Andererseits gelingt es Brontë, dass man dafür Verständnis zeigt, dass man mit den Figuren leidet und sie nicht permanent verurteilt - wie schlimm ihr Verhalten auch sein mag. In dieser Hinsicht sticht besonders Heathcliff hervor, und es ist umso bemerkenswerter, dass Emily Brontë ausgerechnet ihn zum Fixpunkt ihres Romans macht. Heathcliff ist ein klassischer Bösewicht, ein Antiheld ersten Grades, ein gewalttätiger Mensch ohne Mitleid und Anteilnahme. Und dennoch fühlt man selbst mit ihm, denn als Kind wurde ihm böse mitgespielt und durch Ungerechtigkeiten verliert er Cathy, die Liebe seines Lebens.

Die Figuren sind so voller Liebe, Leidenschaft und Zorn, dass man es als Leser:in bisweilen kaum aushalten kann. Es wird geliebt und gehasst, geweint und gestorben - und das alles so ungezügelt, dass sich auch das Wetter im Roman den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen scheint.

Liest man die Handlung der "Sturmhöhe" in Kurzform, mag man sich oberflächlich an eine Schmonzette erinnert fühlen: Findelkind wird zunächst bevorzugt, dann verstoßen, verliert die Liebe seines Lebens und rächt sich an jedem, der sich in seiner Nähe befindet. Dass der Roman trotz dieser Melodramatik nicht zu einer Schmonzette wird, liegt am klugen und emotionalen Blick der Autorin, die ihre Charaktere nicht allein lässt in diesem Sturm der Gefühle und diese plastisch und mit hoher Intensität auf die Leser:innen überträgt.

Und so ist "Sturmhöhe" in seiner kongenialen Mischung aus Liebesdrama, Familienroman und klassischer Schauergeschichte wahrlich ein Meisterwerk der Weltliteratur, das es dank der "Penguin Edition" neu oder wie in meinem Fall erstmalig zu entdecken gilt. Dennoch möchte ich die Rezension nicht ganz ohne eine Warnung beenden: Wer sich auf die Sturmhöhe begibt, kehrt aufgewühlt und verändert von ihr zurück - und wird vielleicht sogar von den Figuren in seinen Träumen verfolgt...

von: Gwendolyn Brooks
von: Sarah Dunant
von: Patricia Hempel
 

alasca

Bekanntes Mitglied
13. Juni 2022
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49
Sturmhöhe ist eine der prägenden Lektüren meines Lebens. Unlängst habe ich den Roman noch einmal gelesen, nach einer Pause von über 30 Jahren, im Rahmen meines Litkreises. Meine Ängste, ich könnte nicht mehr so beeindruckt sein oder den Roman womöglich gar nicht mehr mögen, waren gottseidank unbegründet: Ich war genauso geflasht, gefesselt und fasziniert wie bei der Erstlektüre, nur womöglich NOCH tiefer angefasst als beim ersten Mal.
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
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Liebe, Tod und Heathcliff

Yorkshire, 1801: Als der neu zugezogene Mr. Lockwood seinem Mietsherrn Heathcliff einen ersten Besuch abstattet, wird er von diesem und dessen seltsamen Mitbewohner:innen der Wuthering Heights, der Sturmhöhe, nicht gerade freundlich empfangen. Doch wieso lebt dieser Heathcliff überhaupt zusammen mit dem jungen Hareton, der nicht sein Sohn ist? Und warum ist seine Schwiegertochter Cathy dermaßen schlecht gelaunt und hat offenbar überhaupt keine Verbindung zu einem der anderen Anwesenden? Als Lockwood sich von einer Krankheit erholen muss, erzählt ihm seine Haushälterin Nelly Dean die ganze unglaubliche Geschichte - und blickt dafür fast 40 Jahre zurück auf die Familie Earnshaw, deren beschauliches Leben durch die Aufnahme des Findelkinds Heathcliff eine dramatische Wendung erfuhr.

Vor etwa einem Jahr startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. In knalligem Rot ist nun Emily Brontës einziger Roman "Sturmhöhe" (Übersetzung: Siegfried Lang) erschienen und selten wirkte eine Farbwahl so angemessen wie in diesem Fall. Denn "Sturmhöhe" ist ein gewaltiger Ritt auf der Klaviatur aller menschlicher Emotionen. Und nicht nur Protagonist Heathcliff sieht auf seinem Rachefeldzug mehr als einmal Rot. Die Ausgabe verzichtet auf den Abdruck des in anderen Editionen üblichen Stammbaums, was Vor- und Nachteil zugleich ist. Zum einen sind die teilweise sehr ähnlichen Namen und Verwandtschaftsverhältnisse so komplex, dass man ohne den Stammbaum doch häufiger durcheinander gerät. Zum anderen nimmt der Stammbaum durch bestimmte Geburts-, Hochzeits- und Todesdaten auch einiges vorweg, wodurch der Überraschungseffekt etwas verpuffen würde.

Zunächst einmal ist es Emily Brontës Sprache, die auffallend schön ist und die Leser:innen unmittelbar teilhaben lässt an den Empfindungen Lockwoods, als dieser sich erstmals der rauen Landschaft der Heights nähert und auf eine unwirtliche Mischung aus Mooren, Heide und einem stetig wehenden Wind trifft. Die schillernden Naturbeschreibungen und die Einsamkeit des Anwesens lassen ihn beglückt ausrufen: "Der wahre Himmel für einen Menschenfeind!" Dass sich dieser für die Beteiligten als wahre Hölle entpuppt, kann er zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal ahnen.

Äußerst gelungen ist auch die komplexe Erzählstruktur, die beim Erscheinen des Romans im Jahre 1847 - und damit einem Jahr vor Emily Brontës viel zu frühem Tod - als revolutionär galt. So erfahren wir es im informativen Nachwort von Susanne Ostwald. Das Besondere daran ist, dass sich Brontë hauptsächlich auf zwei unterschiedliche Erzählstimmen verlässt: Lockwood in der Rahmenhandlung und eben Nelly Dean in den Rückblicken. Beide schildern völlig subjektiv ihre Eindrücke und man muss ihnen als Leser:in vertrauen, um das ganze Drama für bare Münze zu nehmen. Vor allem mit Lockwood geht die Leserschaft eine Art Symbiose ein, denn wenn dieser den Heights und ihren Bewohner:innen am Ende des Romans einen weiteren Besuch abstattet, sieht er die Figuren eben mit genau denselben Augen wie die Leser:innen. Ein äußerst gelungener Schachzug der Autorin, die in weiteren Verschachtelungen der Erzählstruktur ihr großes Können beweist, indem sie beispielsweise Briefe oder Zitate der handelnden Figuren geschickt in die Erzählungen Nellys einwebt und dadurch für Abwechslung, Spannung und eine permanente Aufmerksamkeit der Leser:innen sorgt.

Ein weiterer Pluspunkt sind die äußerst komplexen und ambivalenten Figuren. So gibt es wohl keinen der Charaktere, der durch sein Fehlverhalten nicht den Zorn der anderen Figuren und der Leser:innen auf sich zieht. Andererseits gelingt es Brontë, dass man dafür Verständnis zeigt, dass man mit den Figuren leidet und sie nicht permanent verurteilt - wie schlimm ihr Verhalten auch sein mag. In dieser Hinsicht sticht besonders Heathcliff hervor, und es ist umso bemerkenswerter, dass Emily Brontë ausgerechnet ihn zum Fixpunkt ihres Romans macht. Heathcliff ist ein klassischer Bösewicht, ein Antiheld ersten Grades, ein gewalttätiger Mensch ohne Mitleid und Anteilnahme. Und dennoch fühlt man selbst mit ihm, denn als Kind wurde ihm böse mitgespielt und durch Ungerechtigkeiten verliert er Cathy, die Liebe seines Lebens.

Die Figuren sind so voller Liebe, Leidenschaft und Zorn, dass man es als Leser:in bisweilen kaum aushalten kann. Es wird geliebt und gehasst, geweint und gestorben - und das alles so ungezügelt, dass sich auch das Wetter im Roman den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen scheint.

Liest man die Handlung der "Sturmhöhe" in Kurzform, mag man sich oberflächlich an eine Schmonzette erinnert fühlen: Findelkind wird zunächst bevorzugt, dann verstoßen, verliert die Liebe seines Lebens und rächt sich an jedem, der sich in seiner Nähe befindet. Dass der Roman trotz dieser Melodramatik nicht zu einer Schmonzette wird, liegt am klugen und emotionalen Blick der Autorin, die ihre Charaktere nicht allein lässt in diesem Sturm der Gefühle und diese plastisch und mit hoher Intensität auf die Leser:innen überträgt.

Und so ist "Sturmhöhe" in seiner kongenialen Mischung aus Liebesdrama, Familienroman und klassischer Schauergeschichte wahrlich ein Meisterwerk der Weltliteratur, das es dank der "Penguin Edition" neu oder wie in meinem Fall erstmalig zu entdecken gilt. Dennoch möchte ich die Rezension nicht ganz ohne eine Warnung beenden: Wer sich auf die Sturmhöhe begibt, kehrt aufgewühlt und verändert von ihr zurück - und wird vielleicht sogar von den Figuren in seinen Träumen verfolgt...

von: Gwendolyn Brooks
von: Sarah Dunant
von: Patricia Hempel
In Deiner sehr schön formulierten und treffenden Rezension hast Du alle wesentlichen Punkte aufgeführt und Deine Begeisterung für den Roman nachvollziehbar rübergebracht. Toll!!!