Rezension Rezension (5/5*) zu Stille Wut: Roman von Sergio Bizzio.

parden

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13. April 2014
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7.675
49
Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Stille Wut: Roman von Sergio Bizzio
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Ein Leben im Verborgenen...

Was für eine Idee! Die Geschichte selbst ist rasch erzählt. Ein Bauarbeiter (José Maria, von allen nur Maria genannat) lernt zufällig an der Kasse eines Supermarktes ein Hausmädchen (Rosa) kennen, und sogleich funkt es zwischen den beiden. Rosa hat wenig Freiraum in ihrer Anstellung, und so treffen sich die beiden einmal in der Woche in einem Hotel - für sie die einzige Möglichkeit, sich zu lieben. Als die Herrschaften dann aber für einige Tage fort fahren, lädt Rosa ihren Freund in die Villa ein, in der sie arbeitet. Unangekündigt stehen die Herrschaften plötzlich früher als erwartet in der Tür, als Maria gerade bei Rosa in der Küche sitzt. Rasch überlegen die beiden, wie er flüchten kann, ohne entdeckt zu werden - und tatsächlich, als Rosa die Küche wieder betritt, ist Maria fort. Doch statt nach draußen ist er ins Innere der riesigen Villa geflüchtet, in die oberste und ungenutzte Etage. Dies erweist sich zunächst als genialer Schachzug, da niemand von Marias Aufenthalt dort weiß und er plötzlich verdächtigt wird, seinen Vorarbeiter auf der Baustelle getötet zu haben..


Doch im Grunde verspürte er keinen Drang, die Zeit zu nutzen: (...) das Nichtstun gefiel ihm. Er hatte niemandem gegenüber Verpflichtungen, er musste keine Befehle befolgen, und er musste sich um nichts kümmern, außer darum, nicht entdeckt zu werden.


Der argentinische Autor Sergio Bizzio schuf hier ein beklemmend spannendes Kammerspiel. Denn José Maria bleibt zunächst ein paar Tage, dann Wochen und schließlich gar Jahre unentdeckt der heimliche Bewohner der Villa und durchläuft dabei allmählich eine deutliche Wandlung. Stets allein mit seinen Gedanken und Gefühlen vertreibt er sich die Zeit mit Büchern aus der gut ausgestatteten Bibliothek und mit heimlichen Erkundungen im Haus. Mit José Maria wird auch der Leser zum Voyeur. Intensiv beobachtet er das Leben der gelungen skizzierten Bewohner der Villa und lernt diese dabei besser kennen als sie sich untereinander. Vor allem an Rosas Leben nimmt Maria weiterhin regen Anteil und erträgt es nur schwer, als sie sich einem anderen Mann zuwendet.


Also keine Familie, keine Gespräche, keine Freunde, keine Liebe (...) Was hatte er dann in seinem Leben gemacht? Er wusste es nicht. Aber das war nur eine Frage; erst als er sich viele stellte, alle auf einmal, sie beinahe aufeinanderstapelte, fand er die Antwort: Rosa. Sie war das Beste, was ihm je passiert war, und es war plötzlich geschehen; eine Revolution auf den ersten Blick.


Frei von allen gesellschaftlichen Zwängen entwickelt José Maria allmählich eine ganz eigene Moral, und auch seine Gefühlswelt verändert sich zusehends. Ein geiterhaftes Leben führt der ehemalige Bauarbeiter da, und die rasch skizzierten Szenen schlagen den Leser mit knappen Sätzen und einem ganz eigenen Sprachzauber in den Bann. Natürlich lebt die Geschichte auch von der Spannung, wie lange José Maria es tatsächlich schafft unentdeckt zu bleiben. Aber spannend war für mich auch die Entwicklung des Charakters. Viel spannender als ich zu Beginn der Lektüre erwartet hätte...


Maria hörte sie weinen und schlang die Arme um sich, als würde er sie umarmen. Und irgendwie tat er das auch, denn er trug sie im Herzen.


Weshalb zieht José Maria es eigentlich vor, einsam in dem Haus zu verbleiben anstatt tatsächlich zu fliehen? Diese Frage stellt sich beim Lesen zwangsläufig - und wird im Laufe der Geschichte beantwortet. Ob die Antwort ausreicht, kann jeder Leser wohl nur für sich entscheiden.

Mir jedenfalls hat das Buch unterhaltsame Lesestunden beschert, und wer kammerspielartig angelegten Erzählungen gegenüber nicht abgeneigt ist, dem sei hiermit eine klare Empfehlung ausgesprochen...



© Parden

 
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