Rezension Rezension (5/5*) zu Stella von Takis Würger.

MRO1975

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11. August 2018
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Es gibt keine einfachen Antworten auf schwierige Fragen


Takis Würger kann schreiben und den Leser mitreißen. Dieses Talent nutzt er, um in seinem neuen Roman einen Blick auf die historische Person Stella Goldschlag zu werfen. Stella Goldschlag arbeitete in den 1940ern als sog. Greiferin für die Gestapo. D.h. sie ermöglichte die Verhaftung und Verschleppung hunderter Juden. 1994 beging sie Selbstmord. Takis Würger versucht eine Annäherung, jenseits von Schwarz- und Weißmalerei. Dies hat ihm harrsche Kritik aus mehreren, völlig unterschiedlichen Lagern eingebracht. Die einen werfen ihm, einen zu leichtfertigen Umgang mit den Verbrechen der Nazis vor. Er habe einen Liebesroman im Stile Rosamunde Pilchers verfasst und mit dem Holocaust aufgemotzt, um die Verkaufszahlen zu steigern. Andere haben Takis Würger wegen des Verdachts der Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener angezeigt. Ich kann keinen dieser Kritikpunkte teilen.

Zum Buch: Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive von Friedrich erzählt. Friedrich ist in der Schweiz aufgewachsen. Seine Familie ist wohlhabend. Dennoch hat Friedrich schon als Kind lernen müssen, wie schnell Glück und Geborgenheit in Unglück und Tragödien umschlagen können. Bei einer Schneeballschlacht wird ein Kutscher von einem Schneeball getroffen. Als Friedrich gesteht, der Werfer gewesen zu sein, zerfetzt ihm der Kutscher mit einem Ambosshorn das Gesicht. Friedrich verliert zwei Backenzähne und ist für den Rest seines Lebens gezeichnet. Zudem kann er keine Farben mehr sehen. Für seine alkohlkranke Mutter, die ihren unerfüllten Traum von einer Karriere als Malerin über Friedrich ausleben wollte, ist das eine zusätzliche Katastrophe. Die Familie zerfällt.

Friedrich, der wohlhabend genug ist, keiner Arbeit nachgehen zu müssen, entschließt sich, 1942 nach Berlin zu gehen. Er ist angezogen vom Glanz der Metropole, die der Krieg noch nicht erreicht hat. Außerdem will er „die Deutschen“ von Nahem sehen. Friedrich schreibt sich in einer Zeichenschule ein. Dort lernt er das Modell Kristin kennen. Er verliebt sich in Kristin und zieht mit ihr durch die Clubs, trinkt zu viel und hört verbotene Musik. Bei Bombenalarm sitzen sie im Bunker des Hotels, in dem Friedrich wohnt, und trinken Champagner. Ansonsten bekommt Friedrich vom Krieg und der Not in der Stadt nicht viel mit. Denn wer genug Geld hat, der kann sich auch zu diesen Zeiten noch fast alles kaufen.

Dann verschwindet Kristin. Als sie nach mehreren Tagen wieder auftaucht, ist sie zerschlagen und verletzt. Sie gesteht Friedrich ihre wahre Identitität. Sie ist Stella Goldschlag, eine Jüdin. Aufgrund ihres Aussehens - sie ist groß, blond und sehr attraktiv - hat sie sich bisher erfolgreich als Deutsche ausgeben können. Doch sie wurde verraten und von der Gestapo verhaftet und gefoltert. Die Nazis wollen, dass sie ihnen beim Aufspüren versteckter Juden hilft. Sie hat zugesagt - auch weil ihre Eltern noch in den Kellern der Gestapo sitzen und man ihr versprochen hat, sie vorerst nicht zu deportieren.

Friedrich will mit Stella in die Schweiz. Aber Stella will ihre Eltern nicht zurück lassen. Beide versuchen sich zu arrangieren und ihre vermeintlich unbeschwerte Liebesbeziehung fortzusetzen. Doch man kann nicht ewig die Augen verschließen.

Zum Aufbau: Der Roman beginnt mit der Rückblende in die Kindheit von Friedrich. Danach werden die Geschehnisse im Berlin des Jahres 1942 in monatlichen Kapiteln erzählt. Die Kapitel beginnen jeweils mit einer Zusammenschau von historischen Ereignissen des Monats. Dabei stehen Informationen über den Kriegsverlauf und die Greultaten der Nazis neben Banalitäten. Diese Zusammenstellung ermöglicht zum einen eine zeitliche Verortung des Romangeschehens und zeigt zum anderen nochmals die Willkürlichkeiten, die unsere Geschichte durchziehen. Normalität und Grausamkeit sind immer nah beeinander.

Einstreut in den Text sind außerdem Auszüge aus den Akten des Militärgerichts, vor dem sich die historische Stella Goldschlag nach dem Krieg verantworten musste. Die vernommenen Zeugen berichten darin, wie Stella Goldschlag an Verhaftungen mitgewirkt hat und, sofern bekannt, was mit den Verhafteten danach passierte.

Meine Bewertung: In dem Roman werden weder die Ideologien der Nazis verherrlicht noch der Holocaust ausgeschlachtet. Die historische Stella Goldschlag ist eine umstrittene Person. Der Roman wirft die Frage auf, wie ihre Motive moralisch zu werten sind. Diese Frage zu stellen ist weder verboten noch verwerflich. Die Antwort des Autors ist weder schwarz noch weiß.
Wenn ich an dem Buch etwas kritisieren möchte, dann nur einen Punkt: Zwischen den eingestreuten Auszügen aus den Prozessakten und der Romanfigur Stella baut sich keine Verbindung auf. Es ist schwer zu glauben, das es sich um dieselbe Person handeln soll. Eventuell wollte der Autor damit die zwei Gesichter der Stella zum Ausdruck bringen. Dies ist für mich aber nicht richtig klar geworden.

Fazit: Takis Würger hat sich ein schwieriges Thema gewählt und dieses in einer leicht lesbaren Form zu Papier gebracht. Das kann ihm nicht zum Vorwurf gemacht werden. Je mehr Leser sich dadurch angesprochen fühlen, umso besser. Sachliche Diskussionen verhindern das Vergessen. Von mir gibt es daher 5 Sterne und eine Leseempfehlung.


 
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