Rezension Rezension (5/5*) zu Stella von Takis Würger.

KrimiElse

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Stella von Takis Würger

Der Roman „Stella“ von Takis Würger erzählt die tragische Liebesgeschichte des Schweizers Friedrich und der jüdischen Denunziantin Stella im Berlin von 1942. Es ist eine spannende, erschreckende und fast unglaubliche Geschichte, ein dunkles Kapitel deutscher Vergangenheit über ein Opfer, das zur Täterin wird und über einen jungen Schweizer, der sich in einer Fantasiewelt der Wirklichkeit zu entziehen versucht, immer mit dem Privileg der Flucht durch seinen Pass im Hinterkopf.

1942 kommt Friedrich, ein stiller junger Schweizer, nach Berlin und trifft an der Kunstschule Kristin. Mit ihr beginnt ein aufregender nächtlicher Weg durch Berlins Jazzclubszene. Der Krieg scheint weit weg zu sein im luxuriösen Hotel am Potsdamer Platz, wo es bei Bombenalarm Champagner und Geigenmusik im Keller gibt. Doch alles ändert sich für Friedrich, als Kristin eines Morgens zerschunden ins Hotel kommt und gesteht, sie sei Jüdin, heiße Stella und sei von der Gestapo zu einem Pakt zur Denunziation versteckter Juden gezwungen worden, um ihre Eltern vor den Todeslagern der SS zu retten.

Takis Würger spielt in dem Roman mit einer wahren Geschichte, nämlich der von Stella Goldschlag, der jüdischen Kollaborateurin, die Hunderte Juden aufspürte und an die Gestapo verriet und damit den Vernichtungslagern auslieferte. Stella Goldschlag lebte von 1922 bis 1994.

Es ist ein Zwiespalt und ein wackeliger Pfad, auf den man vom Autor als Leser geschickt wird. Einerseits ist Verrat auf den ersten heutigen Blick natürlich tabu und verurteilungswürdig, aber Takis Würger gelingt das große Kunststück, beim Leser Verständnis für Stellas Situation und ihr Verhalten zu wecken, indem er Ihre menschliche Seite zeigt und sie selbst auch als Opfer der Nazis vorführt. Zum einen möchte man sie unbedingt verurteilen, weil sie lieber deutsch als jüdisch sein möchte, weil sie versucht, sich an das herrschende System anzupassen, und natürlich weil sie andere Juden verrät. Andererseits stellt sich die Frage, ob Stella jemals wirklich eine Wahl hatte und ob man sie überhaupt verurteilen und schuldig sprechen darf, wenn sie Juden aufspürt, um die Haut ihrer Eltern zu retten.

Verzweifelt, voller Melancholie und Sehnsucht, aber auch ausschweifend und obsessiv sind die Facetten, in denen sich Stella dem Leser zeigt. Friedrich ist ihr vom ersten Moment an verfallen, und man versteht ihn. Seine Suche ist die nach dem Leben, ein Versuch des Ausbruchs aus dem Goldenen Käfig in der Schweiz. Naiv und aufgeregt auf der Spur von Verbotenem bewegt er sich wie in einer Twilight-Zone zur Realität, privilegiert und abgeschottet im Luxushotel und im nächtlichen Berliner Untergrund, gleichzeitig voller Wahn und abhängig von einer Frau, die ihn nahezu handlungsunfähig macht.

Es ist eine Geschichte der Grautöne, man bekommt vom Autor allerdings heftige Lektionen zur Realität und Objektivität durch eingeschobene Verhörprotokolle realer Prozessakten, in denen sich schwarz und weiß klar abzeichnen. Und gerade deshalb ist es trotz der Grauzeichnung eine sehr moralische Geschichte, die fesselnd, eindringlich und aufrüttelnd ist und mich voller Nachdenklichkeit zurück gelassen hat. Großer Applaus von mir dafür, verbunden mit einer dringenden Empfehlung zur Lektüre diese famosen Buches.


 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Und gerade deshalb ist es trotz der Grauzeichnung eine sehr moralische Geschichte, die fesselnd, eindringlich und aufrüttelnd ist und mich voller Nachdenklichkeit zurück gelassen hat. Großer Applaus von mir dafür, verbunden mit einer dringenden Empfehlung zur Lektüre diese famosen Buches.
Ich bin bei dem Roman, der in den neuen Medien gefühlt überwiegend zerrissen wird, noch mittendrin.

Insbesondere wird dem Autor ja vorgehalten, er nehme es mit der Wahrheit nicht sehr genau (es existiert wohl eine Biografie über Stella Goldschlag von der Würger abweicht. Wer aber kennt die absolute Wahrheit wirklich ?!). Auch seien eben die von dir genannten Einschübe aus Akten und Protokollen unkommentiert und würden so dem Ernst des Themas nicht gerecht.

Das große Problem ist aber wohl die Tatsache, dass hier die Schattenseite einer jüdischen Frau offenbar wird, die andere Juden an die Nazis verraten haben soll.
Wahrscheinlich hat sie das aus Angst getan, ich werde es noch erfahren. Es gibt eben auch Graubereiche im Leben.

Bis jetzt wird der Autor dem ernsten Thema vollauf gerecht. Ich kann die Aufregung um diesen Roman (noch?) nicht nachvollziehen.
 

Helmut Pöll

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Ich werde Stella von #takis würger in jedem Fall auch bei Gelegenheit lesen @KrimiElse @Literaturhexle .
Vor allem ist mir das Buch in den letzten Tagen durch die teils empörten Reaktionen der Feuilletons aufgefallen, die von "Ärgernis" bis zu "Holocaust-Kitsch" reichen. Aber diese Aufgeregtheit wird mich sicher nicht abschrecken mir selber ein Bild zu machen.
https://www.kulturradio.de/rezensionen/buch/2019/01/Takis-Wuerger-Stella.html
https://www.ndr.de/kultur/buch/Debatte-um-Stella-von-Takis-Wuerger-entbrannt,takiswuerger106.html
 

KrimiElse

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26. Januar 2019
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Ich denke, dass es inzwischen nicht ganz leicht ist, einen unverschleierten Blick auf das Buch zu haben. Ich kann ein paar Gesichtspunkte der Debatte und der harschen Kritik nur sehr schwer nachvollziehen. Für mich ist es keinesfalls ein seichtes Buch, nur weil es in verständlicher und nicht in hochliterarischer Sprache geschrieben ist. Die Geschichte selbst kann man sicher aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten, und es ist definitiv kein Geplänkel mit dem schmückendem Thrill-Beiwerk der Judenverfolgung. Ich weiß gar nicht, wie man als Rezensent zu solch einer Meinung kommen kann...Natürlich erzählt Würger nicht mit erhobenem Zeigefinger, aber das hat sicher niemand von ihm erwartet. Er ist Literat, und nicht etwa Lehrer, und er hat für mich den nötigen Ernst für seine Geschichte, nicht etwa ein modernes Spätgeborenen-Geschichtchen, das den Opfern nicht gerecht wird. Ich verstehe, dass man sich als Opfer oder auch als Nachfahre von solchen vielleicht angegriffen fühlt, aber meines Wissens gehört keine der vernichtenden Stimmen hierzu bzw. spricht für sie.
Was die Biografie zu Stella Goldschlag angeht, so kenne ich nur die Erinnerungen ihres ehemaligen Mitschülers, die wenn auch sehr ernst und respektvoll zu betrachten sind, doch subjektive Erinnerungen sind, ich wüsste jetzt nichts von einer anderen Biografie...verbessert mich bitte, wenn ich mich irre...
Es ist wirklich gut, sich selbst ein Bild zu machen, ich hoffe, ihr schafft es, diese Debatte dabei auszublenden.
 

Literaturhexle

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Was die Biografie zu Stella Goldschlag angeht, so kenne ich nur die Erinnerungen ihres ehemaligen Mitschülers,
Die Biografie wurde in einem Beitrag genannt. Es gäbe nur die eine- dann sind es wohl diese Erinnerungen, die mit Sicherheit keinen absoluten Wahrheitsanspruch haben.
Ich bin knapp auf der Hälfte und kann dich bislang bestätigen @KrimiElse. Vielleicht muss man das Thema auch mal etwas lockerer angehen, um andere, jüngere Leserschichten für die Vergangenheit zu interessieren und nicht nur die üblichen Verdächtigen der Generation 40+?

@Helmut Pöll : deine Beiträge spiegeln beide Seiten der Diskussion. Sehr interessant!
 

KrimiElse

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Die Biografie wurde in einem Beitrag genannt. Es gäbe nur die eine- dann sind es wohl diese Erinnerungen, die mit Sicherheit keinen absoluten Wahrheitsanspruch haben.
Ich bin knapp auf der Hälfte und kann dich bislang bestätigen @KrimiElse. Vielleicht muss man das Thema auch mal etwas lockerer angehen, um andere, jüngere Leserschichten für die Vergangenheit zu interessieren und nicht nur die üblichen Verdächtigen der Generation 40+?

@Helmut Pöll : deine Beiträge spiegeln beide Seiten der Diskussion. Sehr interessant!
Da bin ich auch ganz bei dir, wobei ich den Umgang mit dem Thema jetzt nicht sooooo locker finde. Gut lesbar, ja.
 

Helmut Pöll

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Es ist wirklich gut, sich selbst ein Bild zu machen, ich hoffe, ihr schafft es, diese Debatte dabei auszublenden.
Danke für Deine ausführlichen Infos @KrimiElse . Ich glaube das schaffe ich ganz gut, zumal ich sagen muss, dass die Kritik aus dem Hochfeuilleton für mich nicht das Maß aller Dinge ist. Ganz im Gegenteil fand ich bislang die dort bejubelten Bücher oft langweilig und zu verkopft.

#der club von #takis würger fand ich klasse. Ich mochte die einfache und klare Sprache - wobei einfach eben nicht banal ist. Ich bin sehr gespannt darauf zu erfahren welches Tabu er gebrochen hat, dass jetzt so viele über ihn herfallen.
 

MRO1975

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11. August 2018
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Jetzt habt ihr mich wirklich neugierig gemacht. Eine solche Literaturdebatte hatten wir lange nicht. Mein erster Eindruck ist, dass Stein des Anstoßes der Umstand ist, dass Stella eine jüdische Denunziantin war und manche Leute der Auffassung sind, dass man solche Verfehlungen Einzelner in Deutschland nicht thematisieren dürfe, weil man dadurch die Verfolgung der Juden insgesamt bagatellisieren würde. Das halte ich für falsch. Schwarze Schafe gab und gibt es überall. Das darf aber natürlich nicht verallgemeinert oder zur Aufwiegelung gegen die ganze Gruppe ausgenutzt werden - das geschieht allerdings leider nur allzu häufig. Ich werde mir auf jeden Fall ein eigenes Bild machen.
 

Literaturhexle

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manche Leute der Auffassung sind, dass man solche Verfehlungen Einzelner in Deutschland nicht thematisieren dürfe, weil man dadurch die Verfolgung der Juden insgesamt bagatellisieren würde. Das halte ich für falsch.
Schöner kann man das kaum auf den Punkt bringen, @MRO1975 ! Ich bin völlig deiner Meinung.
Stereotype/Vorurteile sind niemals gut, weder im Positiven noch im Negativen. In jeder Volksgruppe gibt es Gute und Schlechte, also nicht nur schwarz oder weiß.
Bislang empfinde ich den kleinen Roman auch keinesfalls als Leichtgewicht. Interessant ist die Figur des Schweizers, der mehr oder weniger aus einer Laune heraus nach Berlin reist, um zu sehen, was es mit dem Krieg und den Nazis auf sich hat. Er wohnt im Grand Hotel, kann sich jeglichen Luxus leisten und ist ziemlich naiv...
Dieser junge Mann verguckt sich in die Denunziantin...
So weit bin ich jetzt.
 
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