Rezension (5/5*) zu Stella Maris von Cormac McCarthy

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29. März 2022
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Mainz
Buchinformationen und Rezensionen zu Stella Maris von Cormac McCarthy
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Über die Einsamkeit und Verlorenheit einer Hochbegabten

16 Jahre nach dem großen Erfolg von McCarthy liegt dieser nun im kurzen Zeitabstand zwei neue, miteinander verbundene Werke vor: "Der Passagier" und "Stella Maris". Es geht um ein Geschwisterpaar: Während im Fokus von "Der Passagier" der Bruder Bobby steht, geht es in "Stella Maris" um dessen jüngere Schwester Alicia.

Der Roman erzählt davon, wie sich Alicia Anfang der 70er Jahre selt in eine Psychiatrie namens Stella Maris einweist. Ihre Zeit dort und insbesondere die Zwiegespräche mit ihrem Therapeuten Dr. Cohen stehen im Mittelpunkt des Geschehens. Die Selbsteinweisung ein gutes Zeichen und Ausdruck des Willens, Hilfe zu erhalten und "geheilt" zu werden?- Nein, weit gefehlt. Die Grundprämisse ist, dass Alicia nicht behandelt und therapiert werden will. Sie ist laut eigener Aussage auch mehr wegen der Patienten dort als wegen einer Therapie oder den Ärzten. Es empfiehlt sich, sich bei der weiteren Lektüre des Romans auf diese Ausgangskonstellation einzulassen. Ansonsten besteht die Gefahr, dass man den Gesprächsverlauf als wenig authentisch und unprofessionell empfinden wird. Ich denke jedoch, dass es MCCarthy nicht um ein authentisches Arzt-Patienten Gespräch geht.

Richtig - das Buch besteht aus einem endlosen Dialog zwischen Alicia und Dr. Cohen. Es geht um Gott und die Welt, viel Philosophie, die Relation von Wirklichkeit und FIktion, die Grenze zwischen Wahnsinn und Vernunft. Und es geht auch um viel Mathematisches. Davon darf man sich nicht abschrecken lassen. Ich habe die Lektüre keinerzeit durch Recherchen zu dieser oder jener Theorie unterbrochen und in Kauf genommen, dass ich nicht alles verstehe. Trotzdem konnte ich den Roman genießen, insbesondere die philosophischen Passagen und alles, was mit Alicias Hochbegabung und ihrer Einsamkeit und Verlorenheit in der Welt zusammenhängt. Mich hat sehr interessiert, wie Alicia zu der Person geworden ist, die sie ist. Ihre Einsamkeit und das dauerhafte Rattern in ihrem Hirn, die Rastlosigkeit, die sie antreibt - ich konnte dies mit jedem Wort spüren.

Insbesondere die Charakterzeichnung von Alicia finde ich sehr gelungen. Einerseits ist sie sehr einsam und verloren in der Welt. Andererseits gibt sie die Kontrolle über sich nicht ab. Es scheint vielmehr, sie hat alles klar in der Hand: die Dominanz und Steuerung der Gesprächsdynamik wie auch am Ende die folgenschwere Entscheidung über ihre eigene Zukunft. Die Charakterzeichnung des Therapeuten Cohen fand ich nicht ganz so überzeugend. Ich weiß zwar, dass es in Therapien oft darauf ankommt, den Patienten reden zu lassen. Dennoch tat ich mich mit seiner Passivität, gerade als das Verhängnis zunehmend an Fahrt gewinnt, schwer. Auch wenn die Grundprämisse der Deal ist "Gespräch ja, Therapie nein" - es ist doch Teil des Berufsethos, dass Therapeuten zur Heilung verpflichtet sind. Auch erschien mir die Preisgabe privater Details, die Alicia ihm gekonnt entlockt, als etwas unprofessionell. Wie gesagt, denke ich, man sollte diese Geschichte nicht so lesen, als stünde die Arzt-Patient Beziehung im Vordergrund. Das relativiert mein Unbehagen mit Dr. Cohen etwas. Zudem wird er sich seiner Machtlosigkeit sehr bewusst sein.

Alles in allem ein ganz wunderbares Buch für LeserInnen, die gerne philosophisch angehauchte Geschichten lesen. Kann man Abstriche machen im Hinblick auf den Ehrgeiz, alles verstehen zu wollen, dann ist dieses Buch sicher eine Lektüre wert. Ich kann - meine relativierenden Anmerkungen eingedenk - das Buch voll und ganz empfehlen. Ein wahrer Lesegenuss und ganz große Kunst!

 
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