Rezension Rezension (5/5*) zu Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt von Jesmyn Ward.

Renie

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19. Mai 2014
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Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
ein faszinierender Sprachstil

Der Titel von Jesmyn Wards Roman "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" hat etwas Klerikales an sich, könnte durchaus die Zeile aus einem Choral sein. Der Titel geht nicht leicht von den Lippen und ist alles andere als gefällig. Doch damit passt er perfekt zu einem unbequemen Buch, das mir emotional einiges abverlangt hat.
"Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" behandelt die Geschichte einer Familie in den Südstaaten der USA, wo das Thema Rassendiskriminierung heute immer noch den Alltag prägt.

Der 13-jährige Jojo lebt mit seiner kleinen Schwester Kayla im Haus seiner Großeltern, die er Mam und Pop nennt. Seine leibliche Mutter Leonie lebt ebenfalls in diesem Haushalt. Die Namensgebung deutet darauf hin: Mam und Pop sind ihm mehr Eltern als seine eigenen: Mutter Leonie und Vater Michael, der gerade im Gefängnis sitzt. Die farbige Leonie hat sich in jungen Jahren mit dem weißen Michael "eingelassen". Diese Beziehung sorgte für Zündstoff in der erzkonservativen und rassistischen Gegend. Kaum zu glauben, aber Michael hatte tatsächlich das Stehvermögen, gegen den Widerstand seiner strengen Eltern, mit Leonie zusammenzuleben, was sie fortan im Haus von Leonies Eltern auch getan haben. Praktisch für Leonie und Michael, wurde ihnen doch die Verantwortung für die Erziehung von Jojo und Kayla abgenommen, zumal sie eh nicht in der Lage gewesen wären, sich um die Kinder zu kümmern. Denn Leonie und Michael haben ein Drogenproblem.

"Es fühlt sich gut an, fies zu sein, an dem Baby, das ich nicht schlagen darf, vorbeizureden und meinen Zorn an jemand anderem auszulassen. An dem, für den ich nie gut genug bin. Nie Mama bin. Bloß Leonie, ein Name aus den gleichen drei enttäuschten Lauten, die ich auch von Mama, von Pop ... höre, schon mein ganzes verfluchtes Leben lang." (S. 159)

Jojo und Kayla reagieren mit Ablehnung auf Leonie. Insbesondere Jojo, der mit seinen 13 Jahren bereits das Verständnis eines Erwachsenen hat, verachtet seine Mutter. Baby Kayla hängt an ihrem großen Bruder, und er kümmert sich liebevoll um die kleine Schwester. Er lässt ihr die Fürsorge und Nähe zuteil werden, die eigentlich von den Eltern zu erwarten gewesen wären.
Als Michael aus dem Gefängnis entlassen werden soll, beschließt Leonie, ihn abzuholen. Plötzlich entdeckt sie einen bisher nicht da gewesenen Familiensinn und nimmt die beiden Kinder mit auf die mehrtägige Reise. Während der Fahrt zeigt sich, dass sie mit den Kindern völlig überfordert ist. Die Kinder sind für sie nicht wichtig, manchmal sogar lästig. Wichtig ist, dass sie wieder mit ihrem Mann zusammen sein kann.

Der Roman wird zunächst aus zwei Perspektiven erzählt: Jojos und Leonies. Das Leben, das diese Familie führt, aus der Sicht eines Kindes geschildert zu bekommen, ist nicht leicht. Es tut weh, wenn Jojo die Abneigung, die er gegen seine Mutter hat, in Worte fasst. Es wühlt auf, wenn er erzählt, wie er versucht, sich und seine kleine Schwester auf der Fahrt zu versorgen, weil seine Mutter es nicht macht. Es macht fassungslos, wenn Jojo am eigenen Leib die Schikane durch rassistische Weiße erfährt und seine Mutter tatenlos dabei zusieht.
Parallel zu Jojos Sicht wird die Geschichte durch Leonie erzählt. Und dieser Teil macht mehr als deutlich, wie überfordert Leonie mit der Verantwortung für sich selbst ist, geschweige denn für zwei Kinder. Als Mutter ist sie ein Totalausfall. Sie ist sich dessen bewusst, kann jedoch nicht über ihren Schatten springen.

"'... Aber sie hat den Mutterinstinkt nich. Ich hab's gesehn, als du noch klein warst und wir beim Einkaufen warn, da hat sie sich was zu essen gekauft und es vor deinen Augen gegessen, und du saßt hungrig da und hast geweint. Da wusste ich's.'" (S. 246)

Im Verlauf der Geschichte wird sich noch ein zweiter Handlungsstrang auftun: Auch der Großvater hat einige Jahre im Gefängnis verbracht, in einer Zeit, in der die Rassengesetze noch schärfer waren als heute und das kleinste Vergehen ausgereicht hat, um für lange Zeit eingebuchtet zu werden. Der Großvater erzählt Jojo von seinen damaligen Erlebnissen, in denen ein damals 12-jähriger Junge eine wichtige Rolle spielte: Richie, der im Verlauf der Handlung des Romans die dritte Erzählperspektive übernimmt. Und mit dem Auftauchen von Richie nimmt der Roman eine metaphysische Wendung an. Die Vergangenheit des Großvaters und die Gegenwart um Jojo vermischen sich. Jojo kann Richie sehen und mit ihm sprechen. Dabei erfährt der Leser, dass Richies gewaltsamer Tod der Grund ist, warum Richie nicht mit dem Leben im Diesseits abschließen kann. Auf den metaphysischen Aspekt dieser Geschichte musste ich, die rational Denkende, mich erstmal einlassen, was anfangs nicht leicht war.

"'... Die Alten haben immer erzählt, wenn jemand auf schlimme Art stirbt, is das manchmal so furchtbar, dass selbst Gott es nicht mitansehn kann, und dann bleibt der Geist zur Hälfte da und wandert herum, sehnt sich nach Frieden wie ein durstiger Mann nach Wasser.'" (S. 249)

Was mich an diesem Roman völlig fasziniert hat, ist der wandelbare Sprachstil von Jesmyn Ward. Es gibt Momente, da erscheint der Sprachstil "grell" - passend zur Hitze und den Sümpfen der Südstaaten. Sie schildert Szenen mit einer Unbarmherzigkeit, die fast schon weh tut. Dabei verwendet sie eine sehr bildhafte Sprache, die sie farblich ausschmückt. Und dann gibt es wieder Szenen, in denen ihre Sprache sehr zärtlich und einfühlsam ist. Sie nimmt sich an diesen Stellen zurück. Ihre Sensibilität kann einem dabei die Tränen in die Augen treiben.
Ich habe selten eine Autorin erlebt, die mich durch ihren Sprachstil emotional dermaßen berührt hat.

Jesmyn Ward hat mit "Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt" (Sing, unburied, sing) im letzten Jahr den National Book Award gewonnen - neben dem Pullitzer Preis der renommierteste Literaturpreis in den USA -, womit die Amerikaner in diesem Fall eine gute Wahl getroffen haben.

Mit diesem Buch bin ich Fan von Jesmyn Ward geworden.

© Renie