Rezension (5/5*) zu Sibir von Sabrina Janesch

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Sibir von Sabrina Janesch
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Zwei Hälften, die zum Ganzen werden

Ausgehend von der Gegenwart, in der Leilas Vater Josef seine Kindheitserinnerungen an eine demenzielle Erkrankung zu verlieren droht, entwirft Sabrina Janesch eine Jahrzehnte umfassende Familiengeschichte. Sie verwebt dabei geschickt die tragischen Erlebnisse des Vaters Josef Ambacher mit denen seiner Tochter Leila im selben Alter. Dabei beschreibt Janesch ein weitgehend unbeleuchtetes Stück deutscher Geschichte, nämlich das Schicksal deutscher Auswanderer, die bereits im 18. Jahrhundert dem Ruf Maria Theresias folgten, um in Galizien im Habsburger Reich eine neue Heimat zu finden. Durch die beiden Weltkriege verschoben sich die Grenzen, so dass diese Menschen wiederholt umgesiedelt werden mussten.

Josef Ambacher wird 1945 als Zehnjähriger zusammen mit seiner Familie von der Roten Armee von Polen nach Nowa Karlowka in die kasachische Steppe zwangsumgesiedelt. Schon die Transportbedingungen sind dermaßen hart, dass Josefs kleiner Bruder die damit verbundenen Strapazen nicht überlebt. Auch seine Mutter verschwindet unter rätselhaften Umständen im Schneesturm. Am neuen Wohnort muss man sich an ungewohnte Gegebenheiten anpassen. Die Unterkünfte sind bescheiden und grenzen direkt an die große kasachische Steppe, der die Autorin mit starken Bildern Leben einhaucht. Sie beschreibt die karge Schönheit, die unendliche Weite, die Legenden, Gefahren und Eigenheiten dieses Landstrichs höchst eindrucksvoll.

Für Josef ist es schwer, Anschluss zu finden. Alle Deutschen müssen sich voneinander fernhalten, die deutsche Sprache ist strengstens verboten. Jede Auffälligkeit kann mit Arbeitsdienst im Gulag bestraft werden, wovor alle große Furcht haben: „Sibirien, das war der Tod.“ Es bestehen viele Vorbehalte den Neuankömmlingen gegenüber. Mit der Zeit gelingt es der Familie jedoch, sich mit ihren handwerklichen und medizinischen Fähigkeiten Anerkennung zu verschaffen. Man bildet mit den dort zur Sesshaftigkeit gezwungenen Kasachen eine Art Schicksalsgemeinschaft. Beide Volksgruppen fürchten sich vor der Stalinistischen Obrigkeit, was verbindet.

Josef hat indessen Angst, seine Muttersprache zu verlieren. Heimlich sammelt er Wörter und Geschichten, er gibt auch die Suche nach seiner Mutter nicht auf, was sehr anrührend ist. Sein Lehrer wird auf Josef aufmerksam und erkennt seinen wachen Verstand. Im gleichaltrigen Tachawi findet der Junge einen treuen Freund. Beide Jungen gehören zwar unterschiedlichen Nationalitäten an, leiden aber unter persönlichen Verlusten, was sie verbindet und fest zusammenhalten lässt.

Über all dem lauern Gefahren: die der unwirtlichen Natur ebenso wie die der Nachbarn, denn: Verrat kommt immer wieder vor und kann tödlich sein. Man verfolgt die zehn Jahre, die die Ambachers in Nowa Karlowka verbringen, als Leser äußerst gespannt. Die Autorin versteht es dabei ausgezeichnet, die einzelnen Episoden in einen großen Gesamtzusammenhang zu stellen.

Geschickt wird diese Handlungsebene mit der Kindheit Leilas verwoben. Manche Erlebnisse des Vaters scheinen sich in ihrem Leben regelrecht zu spiegeln - wenn auch in weniger spektakulärer Form: Anfang der 1990er Jahre leben Josef, seine Frau und die gemeinsame Tochter Leila am Stadtrand von Mühlheide in Norddeutschland, wo sie sich ebenfalls als zugereiste Außenseiter fühlen. Als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion zahlreiche Spätaussiedler aus Kasachstan ankommen, weckt das höchst ambivalente Gefühle. Die Aussiedlergruppen beäugen sich kritisch. Verdrängte Erinnerungen gelangen gerade bei Josef Ambacher wieder an die Oberfläche.

In der Gegenüberstellung der beiden Kindheiten wird deutlich, dass die Vergangenheit immer auch in die Gegenwart hineinwirkt, dass man familiären Verflechtungen nicht entgehen kann. So gibt es zahlreiche Parallelen zwischen Leila und ihrem Vater. Ähnliche Szenarien wiederholen sich; sie sind das Stichwort zum Wechsel der Erzählebenen, die Janesch gekonnt ineinander fließen lässt. Dadurch bekommt der Roman Tiefe und fordert zum Nachdenken auf.

Man kann sich sehr gut in die Psyche der beiden Kinder hineindenken, aber auch die Perspektive ihrer erwachsenen Umwelt wird greifbar. Die Familiengeschichte wird ruhig und sehr kraftvoll erzählt. Sie ist ungemein fesselnd und hält immer wieder berührende Momente bereit. Die Autorin hat mit diesem Roman ihre eigene Geschichte autofiktional aufgearbeitet. Sie hat dabei den Versuch unternommen, die Geschichte ihres Vaters mit ihrer eigenen zu einem Ganzen zusammenzufügen. Man empfindet große Empathie mit den beiden Protagonisten und bekommt Verständnis für die Traditionen der Menschen, die lange in der Sowjetunion beheimatet waren und sich hier in einer anderen Welt zurechtfinden müssen – kritisch beäugt von den Nachbarn.

Ich habe diesen Roman sehr genossen. Beide Handlungsebenen finde ich überzeugend, auch wenn mich die Geschichte von Josef Ambacher etwas stärker gefesselt hat. Der Schreibstil der Autorin ist einprägsam, enthält schöne Formulierungen und lässt keine Wünsche offen. Für den Plot besonders wichtige Begriffe hat sie sogar dreisprachig (Deutsch/Kasachisch/Russisch) aufgeführt, was den kulturellen Besonderheiten Rechnung trägt und verdeutlicht, in welchem Spannungsfeld sich die Protagonisten bewegen.

Ein sehr stimmig konzipiertes Buch! Wie die Autorin zwei unabhängige Zeitebenen miteinander in Beziehung setzt und verbindet, empfinde ich als sehr gekonnt. Der Roman verschafft ein intensives Leseerlebnis.
Große Lese-Empfehlung!


 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
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Sehr aussagekräftige Rezension! Deine Leseeindrücke decken sich total mit meinen.
Ich habe den ersten Roman der Autorin ( „ Katzenberge“ )vor vielen Jahren gelesen und war damals sehr beeindruckt. Der dürfte Dir dann auch gefallen.
 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Es ist mir so schwer gefallen, das Besondere hervorzuheben, weil es ja so eng mit dem Inhaltlichen zusammenhängt, wie selten. Diese Szenen um den Mantel, die Brosche, die Suche nach der Mutter, das Wörtersammeln, die Angst vor dem Tarrter, die Quapps... Das ist alles so wunderbar erzählt, dass ich keine Worte dafür finden konnte...
Eine wirklich gute Schriftstellerin, die sich viel bei ihrer Schreiberei denkt!
Danke, RuLeka, für deine Rückmeldung!