Rezension (5/5*) zu Shuggie Bain: Booker Preis 2020 von Douglas Stuart

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Shuggie Bain: Booker Preis 2020 von Douglas Stuart
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Intensives Leseerlebnis

Glasgow war von Margaret Thatchers rigoroser Wirtschaftspolitik besonders stark betroffen. Zahlreiche Stahlwerke und Werften wurden geschlossen und aus ehemals stolzen Arbeitern wurde eine Heerschar frustrierter Arbeitsloser. Ganze Stadtviertel versanken im Elend. Armut, Gewalt und Alkoholismus bestimmten den Alltag.
In diesem Glasgow der 1980er Jahre ist Douglas Stuarts Debutroman angesiedelt. Hier lebt die schöne Agnes Bain mit ihrem zweiten Ehemann Big Shug, den beiden Kindern Catherine und Leek aus erster Ehe und dem gemeinsamen Sohn Shuggie. Agnes hat vor Jahren, zum Entsetzen ihrer Eltern, ihren ersten Mann verlassen. Das Leben an der Seite des braven Katholiken war ihr zu langweilig. Sie hatte sich mehr Spaß und Glamour erträumt.
Doch die Ehe mit Shug hat nicht mehr Farbe in ihr Dasein gebracht. Shug hat zwar Arbeit als Taxifahrer, doch er ist gewalttätig und betrügt sie mit anderen Frauen.
Als Shug eine eigene Wohnung in Aussicht stellt - die Familie lebt noch bei Agnes‘ Eltern - schöpft Agnes neue Hoffnung. Aber die neue Heimat erweist sich als beengte Unterkunft in einer heruntergekommenen ehemaligen Arbeitersiedlung am Rande der Stadt. Und Shug zieht garnicht erst ein, sondern verlässt die Familie.
Agnes hat schon immer gern getrunken, wie alle in diesem Umfeld, aber mehr zum Vergnügen. Nun aber trinkt sie, um ihr Elend zu vergessen. Die Kinder leiden unter den Stimmungsschwankungen ihrer Mutter. Catherine, die Älteste, verlässt als erste die Familie. Sie heiratet früh und zieht nach Südafrika. Leek, ein introvertierter und künstlerisch veranlagter Junge, zieht sich immer mehr in sich selbst zurück. Bis ihn eines Tages Agnes in einem ihrer berüchtigten Wutanfälle aus dem Haus wirft.
Nun bleibt nur noch Shuggie übrig. Er liebt seine schöne Mutter über alles und versucht ihr beizustehen. Die Rollen sind vertauscht. Das Kind wird zum Hüter und Beschützer seiner Mutter und lernt früh mit ihren Stimmungsschwankungen umzugehen. Aber auch er kann die Abwärtsspirale, in die sich Agnes mit ihrer Alkoholsucht gebracht hat, nicht aufhalten. Kleine Hoffnungsschimmer tauchen dazwischen auf, doch darauf folgt unabwendbar der nächste, immer tiefere Absturz.
Dabei bräuchte Shuggie selbst Hilfe. Schon als er noch klein ist, spüren die anderen, dass er anders ist als sie. Der Junge ist sensibel, spielt lieber mit Puppen und tanzt mit seiner Mutter. Von den Mitschülern wird er deshalb als „ Schwuchtel“ verhöhnt. Shuggie versteht nicht, was gemeint ist. Aber: „ Er spürte, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Etwas in ihm fühlte sich falsch an, falsch zusammengebaut. Es war, als könnten es alle sehen, und er war der Einzige, der nicht wusste, was los war. Etwas war bei ihm anders als bei den anderen, und deswegen war es falsch.“
Der Roman wird aus der Perspektive von Shuggie erzählt. Zu Beginn ist er ein 5jähriges Kind, am Ende knapp 16 Jahre alt. Auch wenn Agnes nach objektiven Maßstäben als Mutter versagt hat, so ist der Roman keineswegs eine Anklage. Im Gegenteil! Er handelt von einer ganz intensiven Mutter- Sohn-Beziehung.
„ Bei den Mathehausaufgaben war sie nicht zu gebrauchen, und an manchen Tagen verhungerte er regelrecht, bevor er von ihr eine warme Mahlzeit bekam, aber als Shuggie sie jetzt ansah, wusste er, dass genau das hier ihre Stärke war. Jeden Tag schminkte und frisierte sie sich und stieg mit hoch erhobenem Kopf aus ihrem Grab. Wenn sie sich im Suff blamiert hatte, war sie am nächsten Tag aufgestanden, hatte ihren besten Mantel angezogen und war der Welt entgegengetreten. Wenn ihr Magen leer war und ihre Kinder hungrig, machte sie sich zurecht und ließ sich vor der Welt nichts anmerken.“
Agnes hat ihrem Sohn trotz allem eine innere Stärke vorgelebt, eine Stärke, die dem älteren Shuggie die Kraft gab, sich aus seinem Milieu zu befreien. Seine Mutter konnte er nicht retten, aber sich selbst.
„ Shuggie Bain“ war für mich ein ganz intensives Leseerlebnis. Douglas Stuart schildert in unzähligen Episoden, was Alkoholismus für den Einzelnen und für sein Umfeld bedeutet. Er schont dabei den Leser nicht, sondern zeichnet die Auf und Abs in drastischen Szenen. Dabei vermag es der Autor, die Atmosphäre unglaublich dicht und sinnlich zu beschreiben und sich voller Empathie in seine Figuren einzufühlen. Erträglich wird das Ganze vor allem durch die bildhafte Sprache.
Besonders hervorheben muss man in diesem Fall auch die Leistung der Übersetzerin Sophie Zeitz, die den Glasgower Arbeiterslang in ein nicht regional geprägtes Proletarier- Deutsch übertragen hat.
Douglas Stuart hat den Roman eng an seine eigene Biographie angelehnt. Er wuchs selbst mit einer alkoholkranken Mutter in Glasgow auf. Diese Authentizität ist im ganzen Buch zu spüren. Wie es der Autor geschafft hat, zu einem anerkannten Modedesigner in New York zu werden, würde ich gerne in seinem nächsten Buch lesen.
Für sein Debut hat er 2020 den Man Booker Prize erhalten, völlig verdient. „ Shuggie Bain“ ist ein Buch, das mich bis zur letzten Seite in seinen Bann gezogen hat und dem ich viele Leser wünsche.