Rezension (5/5*) zu Sehr blaue Augen von Toni Morrison

alasca

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13. Juni 2022
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Buchinformationen und Rezensionen zu Sehr blaue Augen von Toni Morrison
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Wegweisend

„Sehr blaue Augen“ ist der erste veröffentlichte Roman von Toni Morrison. Er spielt im industriellen Ohio der 1940er Jahre nach der Depression und erzählt die tragische Geschichte von Pecola, einem afroamerikanischen Mädchen. Pecolas Geschichte verläuft parallel zu der der Ich-Erzählerin Claudia MacTeer und deren Schwester Frieda, die zwar unter ähnlich schwierigen Umständen aufwachsen, aber dabei halbwegs intakt bleiben.

Gleich am Anfang wird ein Geheimnis enthüllt: Pecolas Vergewaltigung und Schwängerung durch ihren Vater. Dies und die weitere Geschichte erfahren wir aus Claudias Ich-Perspektive. Ergänzt wird diese durch Biographien der anderen Charaktere, deren Verhalten oft kaum nachvollziehbar scheint – bis Morrison uns den Hintergrund nahebringt. Mich hat der psychologische Scharfsinn ihrer Analysen sehr beeindruckt. Die Tiefe und Vielschichtigkeit von Morrisons Figuren ist eine der großen Stärken dieses Romans.

Die Sprache des Buches fand ich abwechselnd großartig und irritierend. Sehr gelungenen, geschliffenen Formulierungen und Passagen von großer Klarheit und Poesie stehen befremdliche Metaphern und Vergleiche entgegen, etwa eine Sonne, die „sich achselzuckend außer Sicht begab“, oder ein „strotzender Männergeruch.“ Brüche im Lesefluss, die zu Denkpausen führen.

Morrison fokussiert vor allem auf das Phänomen des internalisierten Rassismus, also die Übernahme des Blickwinkels der weißen Mehrheitsgesellschaft ins eigene Denken der Afroamerikaner. Sie stellt - ein brillanter Kunstgriff – den Kapiteln Zitate aus einer Serie von Lesebüchern um die mittlerweile sprichwörtlichen Charaktere Dick und Jane voran, die sich allesamt um eine stark genormte weiße Mittelklassefamilie drehen: Weiß, blond, blauäugig, wohlhabend, vorstädtisch. Diese Erzählungen wurden durch ihre Verwendung für den Leseunterricht von Millionen von Kindern über einen Zeitraum von 40 Jahren (bis in die 80er) zu einem mächtigen Narrativ für das, was normal und wünschenswert ist und erwischten die Kinder in einer höchst empfänglichen Phase – dem Beginn der Bildungskarriere. Zusammen mit anderen kulturellen Einflüssen – Film, Werbung, Fernsehen – erschafften sie Normen, die auch die Schwarzen Amerikaner verinnerlichten: Selbstabwertung war und ist die Folge.

Wie weit und wie tief das gehen kann, macht Pecolas Schicksal klar. Eine gesunde Identitätsbildung in den zentralen Jahren der Pubertät hat bei ihr nicht stattgefunden, und im Gegensatz zu Claudia gibt es in ihrem Leben nichts, was die schädlichen Einflüsse puffern könnte. In einer der vielen aufwühlenden Szenen fragt sie die Schwestern: „… wie kriege ich jemanden dazu, mich zu lieben?“ Denn auch Pecolas Mutter kann sie nicht lieben: Mit der sehr dunklen Tochter wird ihr täglich der Grund für ihre vermeintliche Minderwertigkeit vorgeführt.

„Sehr blaue Augen“ wurde Ende der 1960er Jahre geschrieben, als die Bewegung „Black Is Beautiful“ entstanden ist. Diese Bewegung bekämpfte die Vorstellung, dass die natürlichen Merkmale von Schwarzen, wie Hautfarbe, Gesichtszüge und Haare, von Natur aus hässlich sind. Die „schönen“ blauen Augen, die Pecola sich wünscht, stehen für die internalisierten weißen Normen, die sie in den Wahnsinn treiben.
Am Ende kommt Claudia zu dem resignierten Schluss: "Für manche Blumen ist dieser Boden schädlich. Manche Samen will er einfach nicht nähren, manche Früchte nicht tragen […]“. Das Einzige, das sie für Pecola tun kann, ist, ihre Geschichte zu erzählen.

Morrison ist mit diesem Roman eine facettenreiche Darstellung der Interdependenzen von Rassismus, Sexismus und Patriarchat gelungen. Ein von Anfang bis Ende fesselnder, erschütternder Text mit hohem Verständnisgewinn.


von: Markus Walther
von: Roman Klementovic
von: Kent Haruf
 

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