Rezension (5/5*) zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey
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Ein Sommer auf Cape Cod

Cape Cod (zu Deutsch: Kap Kabeljau) ist eine Halbinsel im Südosten von Massachusetts in den USA und beliebtes Urlaubsziel von Touristen aus aller Welt und Amerikanern im Besonderen. Gerade in den Sommermonaten fallen Urlauber wie die Heuschrecken auf Cape Cod ein. Und genau hier spielt die Handlung des Romans „Schmales Land“ der irischen Autorin Christine Dwyer Hickey. Sie lässt uns darin am Sommerurlaub sehr prominenter Touristen teilhaben: dem Künstlerehepaar Hopper.
Edward Hopper, der 1882 geboren wurde und 1967 verstarb, war ein bekannter amerikanischer Maler des Realismus, der sich durch einen sehr nüchternen und fast schon fotografischen Malstil auszeichnete. Charakteristische Themen seiner Gemälde waren – um nur einige zu nennen - die Einsamkeit des Menschen in der modernen Gesellschaft, Licht- und Schattenspiele, szenische Darstellungen, die an Bühnenbilder erinnerten.
Christine Dwyer Hickey hat mit „Schmales Land" einen Roman geschrieben, dessen Aufbau und Stilistik sowie die Stimmung, die vermittelt wird, einem Hopper-Gemälde gleichkommt.
Der Roman erzählt die Geschichte eines Sommers des Künstlerehepaares Hopper im Jahr 1950, das, wie auch die letzten Jahre zuvor, die Sommermonate in Cape Cod (auch „Schmales Land“ genannt) verbringt. Die Hoppers meiden andere Sommerfrischler, denn der Künstler benötigt Ruhe, um seine Kreativität ausleben zu können. So sieht das zumindest seine Frau, die das Wohl ihres Künstlergatten vehement verteidigt. Das Ehepaar ist zu diesem Zeitpunkt bereits seit mehr als 25 Jahre verheiratet. Die Beiden verbindet eine Hassliebe, denn sie können weder mit noch ohne den Anderen, was insbesondere bei der temperamentvollen und jähzornigen Mrs. Hopper regelmäßig zum Ausdruck kommt. Diese emotionalen Höhen und Tiefen bestimmen den Ehealltag der Hoppers. Während sie mit ihrem Ehemann, dem Rest der Welt und ihrem Schicksal als verkannte Malerin hadert – ihr Talent ist auch nach Jahren noch nicht entdeckt worden - zieht sich der genervte Ehemann zurück in seine Malerei. So leben beide miteinander, aber doch jeder für sich.

In dieser Situation tritt Michael in ihr Leben, ein 10-jähriger Kriegswaise aus Deutschland, der Dank einer Wohltätigkeitsorganisation, nach Amerika geholt wurde, um ihm ein neues Leben zu ermöglichen. Michael ist vor Kurzem von einem Ehepaar in New York adoptiert worden und erholt sich nun von den seelischen und körperlichen Strapazen, denen er in den letzten Jahren ausgesetzt war. In Cape Cod lebt er bei einer reichen Gönnerin, die die Wohltätigkeitsorganisation verantwortet, und ihrer versnobten Familie. Zu dieser Familie gehört Richie, ein Junge in Michaels Alter. Die beiden Jungen bewohnen zwar ein gemeinsames Zimmer und verbringen auf Wunsch der Erwachsenen viel Zeit zusammen, doch richtig warm werden sie nicht miteinander. Der verschlossene und schüchterne Michael freundet sich aber mit den Hoppers aus der Nachbarschaft an, wobei Mrs. Hopper seine Bezugsperson wird. Der Kontakt zu dem Jungen tut den Eheleuten gut, da er sie aus ihrem festgefahrenen Alltag herausreißt. Auch Richie lernt die Hoppers kennen und mögen. Das Künstlerehepaar scheint ein Händchen für Kinder zu haben, auch wenn ihre Ehe kinderlos ist. Durch die beiden Jungen kommen sie in Kontakt zu den reichen Nachbarn und werden aus ihrer Zurückgezogenheit mehr oder weniger freiwillig herausgeholt. Dazugehören werden sie zu der Urlaubsgesellschaft Cape Cods jedoch nicht, was sie am Ende auch nicht wollen.

An „Schmales Hand" hat mich der Facettenreichtum der Charaktere und deren Entwicklung begeistert. Die Komplexität der einzelnen Charaktere entfaltet sich erst mit Fortschreiten der Handlung. Anfangs gibt Christine Dwyer Hickey noch nicht viel von ihnen Preis, man gewinnt einen ersten Eindruck der einzelnen Figuren: Mrs. Hopper ist selbstsüchtig, aufbrausend, mit einem hohen Geltungsbewusstsein und bevormundet ihren Mann; Mr. Hopper ist ein netter und ruhiger Kerl, mit einem stoischen Gemüt; Michael ist zurückhaltend und legt ein paar eigenwillige Verhaltensweisen an den Tag, die jedoch seinem Trauma geschuldet sind; und Richie ist der verwöhnte Bengel, der lautstark seinen Anspruch auf eine Freundschaft mit Michael geltend macht. Doch am Ende erweisen sich gerade die lauten Charaktere Mrs. Hopper und Richie als Fundgrube für weitere positive Charakterfacetten, die anfangs durch die Lautstärke dieser Figuren überdeckt waren, die aber im Verlauf der Handlung die negativen Eigenschaften abmildern. Dies hat den Effekt, dass man sich mit Fortschreiten der Handlung immer mehr zu diesen Charakteren hingezogen fühlt, ungeachtet des ersten negativen Eindrucks.

Ein weiterer bemerkenswerter Aspekt dieses Romans ist die literarische Umsetzung von Besonderheiten, die typisch für die Werke von Edward Hopper sind, allen voran eine melancholische und ruhige Stimmung.
Ein bestimmendes Thema dieses Romans ist dabei die Einsamkeit. Durch die unterschiedlichen und stets wechselnden Erzählperspektiven dringt man in die Gedankenwelt der einzelnen Figuren ein. Aus dieser isolierten Position heraus betrachtet man das Geschehen - ein Geschehen, das oftmals in der Ferne stattfindet. Der Leser wird durch den Protagonisten zum Beobachter, ohne dass dieser aktiv am Geschehen teilnimmt. Dadurch entsteht eine szenische Darstellung, die man betrachtet und die an ein Bühnenbild erinnert. Dies ist ein Motiv, das häufig in Hoppers Werken zu finden ist.
Dass es der irischen Autorin demnach gelingt, ihren Roman wie ein literarisches Pendant zu einem Hopper Werk zu schreiben, zeugt von großer schriftstellerischer Kunstfertigkeit, wofür ich sie sehr bewundere.

„Schmales Land“ ist nicht als rein biografischer Roman zu lesen, selbst wenn vieles aus dem Leben der Hoppers erzählt wird und die Geschichte der Hopper Ehe einen großen Anteil an der Handlung hat. Die Aufmerksamkeit richtet sich in diesem Roman auch auf andere Charaktere, allen voran natürlich Michael sowie Richie und seine Familie. Insgesamt ist „Schmales Land" ein literarisches Kunstwerk mit einer ausgefeilten Charakterentwicklung, einer berührenden Handlung und einer intensiven Stimmung. Der biografische Ansatz ist dabei eine interessante Zugabe, die dem kunstinteressierten Leser viel Freude bereiten wird. Aber auch ein weniger kunstinteressierter Leser wird die literarische Qualität dieses Romans zu schätzen wissen.
Leseempfehlung!


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