Es ist das Jahr 1950. Mit einem Comic-Heft und einem Schokoriegel in der Tasche kommt Michael, ein 10-jähriger deutscher Waisenjunge, in Amerika an. Ein Sommer am Meer in Cape Cod soll die Schrecken des Krieges verblassen lassen. Licht tanzt über die Dünen und ergießt sich über kanariengelbe Sonnenschirme, doch weder das noch die Familie, die ihn aufnimmt, lindern Michaels Verlorenheit. Erst durch die eigenwillige Mrs Aitch, eine Künstlerin, die im Schatten ihres berühmten Mannes an der Bucht lebt, öffnet sich ihm in der unvertrauten Idylle eine neue Welt.Kaufen
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New York, 1950: Der 10-jährige Michael wehrt sich dagegen, den Sommer am Meer verbringen zu müssen. Er ist eine deutsche Kriegswaise. Obwohl Michael seit fünf Jahren in den USA lebt und vom kinderlosen Ehepaar Novak adoptiert wurde, merkt man ihm seine Verletzungen sowie seine erlittenen Traumata an. Mrs. Novak fühlt sich überfordert mit dem Jungen, sie gängelt ihn und verlangt, dass er ein guter Amerikaner wird. Das zumindest ist der erste Eindruck, den man von ihr am Beginn des Buches erhält, der aber nicht der letzte bleiben wird.
Damit ist bereits eine große Stärke dieses wunderbaren Romans umrissen: Die vollendete Charakterzeichnung. Keine Figur bleibt eindimensional. Der Leser hat das Glück, jede Figur in verschiedenen Situationen zu erleben, mitunter auch aus anderen Perspektiven, in Rückblicken und Reflexionen, so dass sich jeder Charakter permanent in der eigenen Wahrnehmung verändern darf. Eine so sorgfältige, komplexe und hingewandte Figurenbeschreibung findet man höchst selten. Das ist Schreibkunst par excellence.
Michael fährt schließlich ins Schmale Land nach Cape Cod, wo er als Gast im Ferienhaus der wohlhabenden Familie Kaplan logiert, die ihn herzlich eingeladen hat. Mrs. Kaplan engagiert sich ehrenamtlich und vermittelte seinerzeit die Adoption Michaels. Sie hofft, dass er sich während der Ferien mit ihrem gleichaltrigen Enkelsohn Richie anfreunden wird, dessen Vater im Krieg gefallen ist. Beide Jungen sind zutiefst bedrückt und einsam, sie können die Geister der Vergangenheit nicht abstreifen. Trotz dieser Parallelen finden die Jungen jedoch kaum Zugang zueinander.
Auf der Nachbarschaft befindet sich das Anwesen des Künstlerehepaares Hopper. Hier wird der zweite Handlungsstrang erzählt. Man erlebt den großen Maler in einer Schaffenskrise auf der Suche nach Inspiration. Seine Frau, einst auch angesehene Künstlerin, fühlt sich in seinem Schatten völlig verkannt und von ihm nicht wahrgenommen. Die Verbindung der beiden ist kompliziert, beinahe toxisch, es bleibt oft nicht nur bei verbalen Angriffen. Josephine ist die aggressivere von beiden. Sie ist streitbar und hat sich auch bei den Nachbarn bereits unbeliebt gemacht. Edward entzieht sich nach Möglichkeit den Attacken seiner Frau. Er sucht Ruhe, die sie ihm aber nur selten gönnt.
Auf seinen Streifzügen lernt Michael Josephine Hopper kennen, die er nur Mrs. Aitch nennt. Die beiden freunden sich vorsichtig an, während Richie den Kontakt zu ihrem Mann sucht. Die Kinder tun dem Ehepaar jedes auf seine Weise gut. Zudem ist Familie Kaplan schon lange begierig darauf, den großen Maler näher kennenzulernen, so dass sich aus einer Begegnung die nächsten ergeben. Beide Handlungsfäden werden ungemein gekonnt miteinander verwoben. Auch wenn nichts Spektakuläres passiert, wird man von der Handlung eingenommen, man mag das Buch kaum aus der Hand legen.
Als Leser erlebt man die Protagonisten hautnah. Man lernt ihre Sorgen und Innenwelten kennen. Auch die Kaplans haben Schicksalsschläge zu verwinden. Mrs. Kaplan hat nicht nur einen Sohn verloren, auch ihre Tochter Katherine ist schwer erkrankt. Um sie herum schwirrt ein Freundeskreis, der das Leben unendlich leicht nimmt. Diese Typen spiegeln die oberflächlich-dekadente Welt der reichen Stadtbevölkerung wider. Doch das ist nur ein Nebenschauplatz. Im Zentrum stehen Michael, die Kaplans und die Hoppers, die übrigens niemals namentlich genannt werden. Aus meiner Sicht könnte es sich im Grunde um ein beliebiges Künstlerehepaar handeln. Der Roman funktioniert auch ohne die Hopper - Prominenz.
Wenn man sich natürlich mit dem Werk Edward Hoppers beschäftigt, erkennt man die literarischen Bezüge zu einigen seiner berühmten Werke und weiß, von welchen Bildern konkret die Rede ist. Gleichfalls wird eines von Hoppers zentralen Motiven, die Einsamkeit, thematisch perfekt in den Roman eingebunden. Darüber hinaus werden die Handlungsschauplätze sehr bildhaft dargestellt. Die Autorin spielt mit Licht und Schatten (beides im Werk Hoppers zentral) und schafft dadurch vielgestaltige Szenarien. Die Dialoge lesen sich wie aus dem Leben gegriffen, nichts wirkt steif oder gewollt.
Entstanden ist ein warmherziger Roman, der durch ein ruhiges, intensives Erzähltempo glänzt und dabei von einer latenten Melancholie durchzogen wird. Der Roman ist nicht nur ein Künstler- oder Entwicklungsroman. Er zeigt auch als Gesellschaftsroman die verletzliche Seite einer Nachkriegsgeneration, deren Wunden noch längst nicht verheilt sind. Die verschiedenen Fäden werden meisterhaft miteinander verwoben. Am Ende hatte ich den Eindruck, ein perfektes Buch gelesen zu haben. Dafür gebührt auch der Übersetzerin Uda Strätling ein großes Kompliment. „Schmales Land“ ist definitiv ein Highlight dieses Jahres, für das fünf Sterne eigentlich nicht ausreichen.
Dringende Lese-Empfehlung!
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