Rezension (5/5*) zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey
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Ein grandioses Stück bester Literatur


New York, 1950: Der 10-jährige Michael wehrt sich dagegen, den Sommer am Meer verbringen zu müssen. Er ist eine deutsche Kriegswaise. Obwohl Michael seit fünf Jahren in den USA lebt und vom kinderlosen Ehepaar Novak adoptiert wurde, merkt man ihm seine Verletzungen sowie seine erlittenen Traumata an. Mrs. Novak fühlt sich überfordert mit dem Jungen, sie gängelt ihn und verlangt, dass er ein guter Amerikaner wird. Das zumindest ist der erste Eindruck, den man von ihr am Beginn des Buches erhält, der aber nicht der letzte bleiben wird.

Damit ist bereits eine große Stärke dieses wunderbaren Romans umrissen: Die vollendete Charakterzeichnung. Keine Figur bleibt eindimensional. Der Leser hat das Glück, jede Figur in verschiedenen Situationen zu erleben, mitunter auch aus anderen Perspektiven, in Rückblicken und Reflexionen, so dass sich jeder Charakter permanent in der eigenen Wahrnehmung verändern darf. Eine so sorgfältige, komplexe und hingewandte Figurenbeschreibung findet man höchst selten. Das ist Schreibkunst par excellence.

Michael fährt schließlich ins Schmale Land nach Cape Cod, wo er als Gast im Ferienhaus der wohlhabenden Familie Kaplan logiert, die ihn herzlich eingeladen hat. Mrs. Kaplan engagiert sich ehrenamtlich und vermittelte seinerzeit die Adoption Michaels. Sie hofft, dass er sich während der Ferien mit ihrem gleichaltrigen Enkelsohn Richie anfreunden wird, dessen Vater im Krieg gefallen ist. Beide Jungen sind zutiefst bedrückt und einsam, sie können die Geister der Vergangenheit nicht abstreifen. Trotz dieser Parallelen finden die Jungen jedoch kaum Zugang zueinander.

Auf der Nachbarschaft befindet sich das Anwesen des Künstlerehepaares Hopper. Hier wird der zweite Handlungsstrang erzählt. Man erlebt den großen Maler in einer Schaffenskrise auf der Suche nach Inspiration. Seine Frau, einst auch angesehene Künstlerin, fühlt sich in seinem Schatten völlig verkannt und von ihm nicht wahrgenommen. Die Verbindung der beiden ist kompliziert, beinahe toxisch, es bleibt oft nicht nur bei verbalen Angriffen. Josephine ist die aggressivere von beiden. Sie ist streitbar und hat sich auch bei den Nachbarn bereits unbeliebt gemacht. Edward entzieht sich nach Möglichkeit den Attacken seiner Frau. Er sucht Ruhe, die sie ihm aber nur selten gönnt.

Auf seinen Streifzügen lernt Michael Josephine Hopper kennen, die er nur Mrs. Aitch nennt. Die beiden freunden sich vorsichtig an, während Richie den Kontakt zu ihrem Mann sucht. Die Kinder tun dem Ehepaar jedes auf seine Weise gut. Zudem ist Familie Kaplan schon lange begierig darauf, den großen Maler näher kennenzulernen, so dass sich aus einer Begegnung die nächsten ergeben. Beide Handlungsfäden werden ungemein gekonnt miteinander verwoben. Auch wenn nichts Spektakuläres passiert, wird man von der Handlung eingenommen, man mag das Buch kaum aus der Hand legen.

Als Leser erlebt man die Protagonisten hautnah. Man lernt ihre Sorgen und Innenwelten kennen. Auch die Kaplans haben Schicksalsschläge zu verwinden. Mrs. Kaplan hat nicht nur einen Sohn verloren, auch ihre Tochter Katherine ist schwer erkrankt. Um sie herum schwirrt ein Freundeskreis, der das Leben unendlich leicht nimmt. Diese Typen spiegeln die oberflächlich-dekadente Welt der reichen Stadtbevölkerung wider. Doch das ist nur ein Nebenschauplatz. Im Zentrum stehen Michael, die Kaplans und die Hoppers, die übrigens niemals namentlich genannt werden. Aus meiner Sicht könnte es sich im Grunde um ein beliebiges Künstlerehepaar handeln. Der Roman funktioniert auch ohne die Hopper - Prominenz.
Wenn man sich natürlich mit dem Werk Edward Hoppers beschäftigt, erkennt man die literarischen Bezüge zu einigen seiner berühmten Werke und weiß, von welchen Bildern konkret die Rede ist. Gleichfalls wird eines von Hoppers zentralen Motiven, die Einsamkeit, thematisch perfekt in den Roman eingebunden. Darüber hinaus werden die Handlungsschauplätze sehr bildhaft dargestellt. Die Autorin spielt mit Licht und Schatten (beides im Werk Hoppers zentral) und schafft dadurch vielgestaltige Szenarien. Die Dialoge lesen sich wie aus dem Leben gegriffen, nichts wirkt steif oder gewollt.

Entstanden ist ein warmherziger Roman, der durch ein ruhiges, intensives Erzähltempo glänzt und dabei von einer latenten Melancholie durchzogen wird. Der Roman ist nicht nur ein Künstler- oder Entwicklungsroman. Er zeigt auch als Gesellschaftsroman die verletzliche Seite einer Nachkriegsgeneration, deren Wunden noch längst nicht verheilt sind. Die verschiedenen Fäden werden meisterhaft miteinander verwoben. Am Ende hatte ich den Eindruck, ein perfektes Buch gelesen zu haben. Dafür gebührt auch der Übersetzerin Uda Strätling ein großes Kompliment. „Schmales Land“ ist definitiv ein Highlight dieses Jahres, für das fünf Sterne eigentlich nicht ausreichen.

Dringende Lese-Empfehlung!


von: Jonathan Franzen
von: Rainer Wittkamp
von: Fiona Kidman
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Eher eine Inhaltsangabe; aber da ich den Roman nicht lesen kann, bin ich ganz froh drüber, zu wissen, was mir entgangen ist.
Das finde ich nun garnicht . Außerdem zeigt auch die Art der Zusammenfassung, was einem beim Lesen wichtig war und worauf es dem Autor ankam.
Inhalt, Interpretation und Beurteilung gehören für mich zu einer Rezension. Ich möchte dabei auch immer wissen, worum es geht und nicht nur, dass die Figuren gelungen sind und die Sprache ausgefeilt ist.
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Mir wurde bei @Wandas Antwort unter eine andere Rezension ( finde ich gerade nicht) klar, warum ich eine andere Herangehensweise beim Schreiben von Rezensionen habe.
Ich habe vor beinahe zwanzig Jahren damit begonnen, als ich Bücher in meinem Lesekreis vorgestellt habe. Dabei habe ich mich an Rezensionen aus dem Feuilleton orientiert. Dabei haben die Adressaten kein Buch vor sich, nicht in echt und nicht virtuell, d.h. der Klappentext steht niemandem in diesem Moment zur Verfügung. Deshalb muss auf den Inhalt eingegangen werden.
Schreibe ich Rezensionen ausschließlich für Verkaufsplattformen, kann ich auf die Zusammenfassung verzichten.
Da ich weiterhin meinen Lesekreis als Adressaten im Blickfeld habe, werde ich wie gewohnt weiterhin meine Rezensionen schreiben.
 

Wandablue

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18. September 2019
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Brandenburg
Es kommt halt ein bisschen darauf an, @RuLeka, wie man den Inhalt zusammenfasst, mehr abstrakt oder ob man auf jede Figur eingeht. wenn man auf die einzelnen Figuren eingeht, verliert es für mich den Reiz, das Buch selber zu lesen. In den Lit. Sendungen ist es oft so, dass ich das Buch nicht mehr lesen möchte. Da wird mir viel zu viel verhackstückt. Eigentlich ist das interessant, wenn man den Roman schon gelesen hat.
 
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RuLeka

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Es kommt halt ein bisschen darauf an, @RuLeka, wie man den Inhalt zusammenfasst, mehr abstrakt oder ob man auf jede Figur eingeht. wenn man auf die einzelnen Figuren eingeht, verliert es für mich den Reiz, das Buch selber zu lesen. In den Lit. Sendungen ist es oft so, dass ich das Buch nicht mehr lesen möchte. Da wird mir viel zu viel verhackstückt. Eigentlich ist das interessant, wenn man den Roman schon gelesen hat.
Das sieht jeder anders. Ich will immer so viel wie möglich wissen. Das nervt z.B. meinen Mann, wenn wir gemeinsam einen Film ansehen. Ich weiß immer, worum es geht ( sonst würde ich ihn nicht anschauen ) , er will so wenig wie möglich wissen.
 

Literaturhexle

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Schreibe ich Rezensionen ausschließlich für Verkaufsplattformen, kann ich auf die Zusammenfassung verzichten
Es sollte sich niemand für seine Rezis rechtfertigen müssen. Das einzige, was wirklich unangenehm ist, sind Spoiler.
Will ich nicht viel über den Inhalt wissen, überfliege ich ihn.
Die Rezis zu unseren LR sind weit überdurchschnittlich gut (worauf wir stolz sind;)). Schaut mal woanders, was sich da Rezension schimpft...

Ich schreibe eine Rezension bewusst mit Inhaltsangabe. Ich will, dass jemand, der das Buch nicht kennt, darüber informiert wird. Einfach nur den Klappentext kopieren, finde ich blöd, zumal gerade da oft Dinge drinstehen, die Wesentliches verraten oder in die Irre führen.

Jeder hat seinen Stil und jeder hat mal einen guten oder einen weniger guten Rezi-Tag.
Wer das Schmale Land gelesen hat, wird sehen, dass die Inhaltsangabe oben nur eine Skizze ist und eine Menge Eindrücke enthalten sind. Alles eben Geschmackssache;)
 
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Literaturhexle

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Da wird mir viel zu viel verhackstückt. Eigentlich ist das interessant, wenn man den Roman schon gelesen hat.
Dann lese ich Rezensionen eben erst nach dem Lesen des Buches. Manche Rezis können auch so abstrakt sein, dass man deren Qualität erst nach dem Lesen des Buches bewerten kann- weil die Andeutungen sonst gar nicht verständlich sind.
Wir haben doch eine tolle Viefalt an Rezensionen und niemand muss alle lesen.
 
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Literaturhexle

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2. April 2017
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Man kann doch mal darüber diskutieren, ohne immer gleich in diese political correctness abzugleiten. No tabus.
Man kann über alles diskutieren. Aber das ist meine Meinung und auch die vom WR Team. Wir stellen keine Anforderungslisten auf :rofl
Ich bleibe dabei: Geschmackssache. Eine Rezi, die ich toll finde, findest du zu ausführlich, der King zu trocken und Barbara zu wenig strukturiert. Wie gesagt, jeder liest (auch Rezis) anders.