Rezension (5/5*) zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schmales Land: Roman von Christine Dwyer Hickey
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Porträt einer Künstlerehe und einer ungewöhnlichen Freundschaft

Für „ Schmales Land“ hat die irische Autorin Christine Dwyer- Hickey 2020 den Walter- Scott- Preis für historische Romane erhalten. Dank des Schweizer Unionsverlag können deutsche Leser diese ausgezeichnete Autorin kennenlernen.
Mit „ schmales Land“ ist die Halbinsel Cape Cod an der Küste von Massachusetts gemeint. Hier soll im Sommer 1950 der 10jährige Waisenjunge Michael bei der Familie von Mrs. Kaplan die Ferien verbringen. Mrs. Kaplan, eine reiche Gönnerin, war maßgeblich beteiligt an Präsident Trumans Projekt, deutsche Waisenkinder nach dem Krieg an amerikanische Adoptiveltern zu vermitteln. So kam Michael vor über zwei Jahren zu dem kinderlosen Ehepaar Novak nach New York.
Doch der scheue Junge findet auch in seinem Feriendomizil keinen Anschluss, obwohl mit Mrs. Kaplans Enkelsohn Richie ein gleichaltriger Spielkamerad zur Verfügung stände. Auf seinen Streifzügen durch die Gegend lernt er eine ältere Dame kennen, die er Mrs. Aitch nennt. Michael besucht sie nun beinahe täglich in ihrem Haus in unmittelbarer Nachbarschaft und begegnet dabei auch ihrem Ehemann. Der, ein berühmter Maler, flößt Michael Respekt ein, während er mit Mrs. Aitch unbefangen reden kann. Aber dem kinderlosen Paar scheint der Umgang mit dem Jungen gutzutun.
Dass es sich hier um das Ehepaar Josephine und Edward Hopper handelt - der Name Hopper selbst fällt im gesamten Text nicht - geht nur aus dem Klappentext und dem Cover hervor. Das Buch zeigt auf seinem Umschlagbild das weltberühmte Gemälde „ Sea Watchers“ . Edward Hopper ist einer der ganz Großen des amerikanischen Realismus.
Doch Christine Dwyer Hickey hat hier keine Romanbiographie vorgelegt. Sie beschränkt sich in ihrem Buch vor allem auf eine kurze Zeitspanne im Leben des Malers, jenen Sommer im Jahr 1950. Trotzdem erfährt man als Leser einiges über den Künstler und den Menschen Hopper und dessen Arbeitsweise. Aber vor allem ist „ Schmales Land“ das Porträt einer komplizierten Künstlerehe. Edward und seine Frau Josephine sind zwei sehr widersprüchliche Charaktere. Durch ihre verschiedenen Temperamente ist ihre Ehe ein ständiges Wechselbad zwischen Verbundenheit und Abwehr. Heftige Streitereien sind an der Tagesordnung. Während Hopper sich denen gerne durch Schweigen entzieht, wütet Jo umso heftiger. Einerseits bewundert sie ihren Mann, wacht eifersüchtig über ihn und will immer in seinen Schaffensprozess miteinbezogen werden. Gleichzeitig leidet sie darunter, dass ihre eigene künstlerische Karriere durch die Ehe ins Stocken geraten ist. Sie sehnt sich danach, als eigenständige Künstlerin wahrgenommen zu werden, verschwindet aber ganz im Schatten ihres berühmten Mannes.
Doch auch Hopper ist in jenem Sommer in einer Schaffenskrise. Er fühlt sich ausgebrannt und unfähig zu einem neuen Werk. Obwohl ständig auf der Suche nach Motiven, scheint ihn sein künstlerisches Talent verlassen zu haben. „ Ich hätte Schreiner werden sollen, hatte er sich in jenem Sommer mehr als einmal gedacht, ich hätte ein Joseph sein können statt der am Kreuz.“ So bekommt man als Leser einen Einblick in den oft schwierigen kreativen Schaffensprozess eines Malers.
Aber diese Künstler- und Ehegeschichte ist nur der eine Erzählstrang im Roman. Genau so viel Raum nimmt der Part um den Waisenjungen Michael ein.
Auch hier dringt die Autorin tief in die Psyche des zutiefst traumatisierten Jungen . Michael trägt viel seelische Last mit sich herum. Da ist zum einen der Verlust der Eltern und der Heimat, sowie der Sprache. Dazu kommen die Schrecken des Krieges hinzu, die ihn in vielen Bildern und in seinen Träumen heimsuchen.
Es ist schade, dass Michael und Richie so schwer zueinanderfinden. Denn einen Freund bräuchten beide; auch Richie bedarf unser Mitgefühl . Er versteckt seine Einsamkeit hinter lautem Geplapper und extremer Höflichkeit, aber seine Vernachlässigung ist deutlich spürbar. Ihm fehlt sein im Krieg gefallener Vater. Und seine Mutter Olivia, eine oberflächliche Frau, kümmert sich herzlich wenig um ihren Sohn.
Durch die beiden Jungen berühren sich die zwei Erzählstränge. Die Kinder wirken wie ein Katalysator auf die Beziehung zwischen Hopper und seiner Frau, legen ganz neue Seiten bei beiden offen. Jo erlebt ihren Mann völlig anders, väterlich und fürsorglich. Und sie selbst bekommt von Michael die Aufmerksamkeit, die ihr fehlt .
Gleichzeitig erfahren die Kinder durch das Künstlerpaar die notwendige Zuwendung und Unterstützung in einer für sie belastenden Situation .
Christine Dwyer Hickey erzählt ruhig und unaufgeregt. Sie beobachtet genau, fühlt sich gut in jede Figur und deren Psyche ein. Sie schreibt aus wechselnden Perspektiven, so dass der Leser direkt im Kopf der einzelnen Protagonisten ist. Das lässt ihn verstehen, mitfühlen und mitleiden. Manche Szenen bekommt man aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Personen präsentiert, was den Blick des Lesers nicht nur auf die Lage, sondern auch auf die Personen verändert.
Dabei schreibt sie mit viel Empathie für ihre Figuren, diffamiert sie nie, sondern lässt sie in ihrer Ambivalenz und Komplexität lebendig werden. Auch die Nebenfiguren werden mit einer Geschichte ausgestattet.
Die vielen Dialoge sind immer gelungen und glaubwürdig und charakterisieren, ja bisweilen entlarven sie sogar die Sprechenden.
Manche Szenen wirken wie von Hopper gemalt und schaffen so eine Verbindung zwischen Text und Bildern.
„ Schmales Land“ ist darüber hinaus auch eine Bestandsaufnahme der amerikanischen Gesellschaft zu Beginn der 1950er Jahre. Die Verletzungen und Traumata des Zweiten Weltkriegs sind noch präsent. Dabei wollen die Menschen vergessen und sich einer besseren Zukunft hinwenden, während sich im Hintergrund schon die nächste Kriegsgeneration auf den Weg macht nach Korea.
Wer eine schöne Sprache, psychologisch stimmige Figurenzeichnung und atmosphärisch dichte Beschreibungen zu schätzen weiß und weniger Wert legt auf einen handlungsgetriebenen Plot, der ist mit „ Schmales Land“ bestens bedient. Für mich war der Roman eines der Highlights in meinem diesjährigen Bücherjahr.

von: Auður Ava Ólafsdóttir
von: Elisabeth Schmidauer
von: Sisonke Msimang