Rezension (5/5*) zu Schachnovelle: Penguin Edition von Stefan Zweig

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Schachnovelle: Penguin Edition von Stefan Zweig
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Lesenswerter Klassiker in herrlich frischem Gewand

„Auf dem großen Passagierdampfer, der um Mitternacht von New York nach Buenos Aires abgehen sollte, herrschte die übliche Geschäftigkeit und Bewegung der letzten Stunde.“ (Erster Satz)

Völlig überraschend erfährt der Ich-Erzähler, dass sich Weltschachmeister Mirko Czentovic, um den sich allerlei Anekdoten ranken, an Bord des Dampfers befindet. Das junge Schachtalent stammt nämlich aus einer bildungsfernen Schifferfamilie, gilt als wenig kommunikativ, teilnahmslos und der Welt abgewandt. Sobald er sich vom Schachbrett erhebt, „wird er trotz seines feinen Anzuges zu einer grotesken und beinahe komischen Figur“. Das ist etwas, das den Erzähler neugierig macht. Er möchte Czentovic unbedingt persönlich kennenlernen. Dazu greift er zu einer List, indem er Schachbretter aufstellt, die die Schachliebhaber – und den Weltmeister - heranlocken sollen.

Tatsächlich findet sich mit dem vermögenden Geschäftsmann McConnor ein Spieler nach Maß, der das nötige Kleingeld besitzt, um Czentovic herauszufordern. Natürlich ist der großkotzige Selfmademan chancenlos, auch wenn die Partie große Aufmerksamkeit bei den anderen Passagieren erregt. Hinzu tritt auch Dr. B., ein unscheinbarer Anwalt. Er gibt letztlich die entscheidenden Tipps, die zu einem Remis führen und die sichere Niederlage McConnors verhindern. Niemand hätte erwartet, ein weiteres Schachtalent an Bord zu haben! Die Aufregung ist groß. Das Publikum wünscht sich natürlich eine Revanche. Dr. B. winkt aber vehement ab…

In Folge wird Dr. B. seine Geschichte erzählen, wird berichten, wie er zum Schachspiel kam, wie das Spiel der Könige ihm in nationalsozialistischer Beugehaft einst das Leben rettete. Diese Geschichte ist sehr ergreifend und belegt, wie subtil totalitäre Machthaber mit ihren vermeintlichen Feinden oder Regimegegnern umgehen - ein Thema, dass nach wie vor große Aktualität genießt. Dr. B. wurde zwar nicht körperlich gefoltert, aber er wurde dem „Nichts“ ausgesetzt, in völliger Isolation gehalten:

„…; man lebte wie ein Taucher unter der Glasglocke im schwarzen Ozean dieses Schweigens und wie ein Taucher sogar, der schon ahnt, dass das Seil nach der Außenwelt abgerissen ist und er nie zurückgeholt werden wird aus der lautlosen Tiefe. Es gab nichts zu tun, nichts zu hören, nichts zu sehen, überall und ununterbrochen war um einen das Nichts, die völlig raumlose und zeitlose Leere.“ (S. 44)

Als Dr. B. geistig zu zerbrechen drohte, fand er ein kleines Schachbüchlein, das ihm nach eigener Aussage zwar das Leben rettete, seinen Verstand zunehmend aber von anderer Seite gefährdete….

Die Schachnovelle ist Stefan Zweigs berühmtestes Werk, sie entstand 1942, kurz bevor sich der Autor das Leben nahm. Sie ist leicht lesbar, auch wenn man keine Kenntnisse über das Schachspiel hat. Zweigs Prosa hat große Klasse. Seine stellenweise seitenlangen Sätze besitzen Schönheit und Brillanz, wie man sie in zeitgenössischen Werken selten findet.

Die Haupthandlung auf dem Schiff wird eindrucksvoll von der Geschichte des Dr. B. unterbrochen, die die psychischen Folgen von Terror und Machtausübung darlegt. Das Leichte verknüpft sich mit dem Schweren. Zweig hat wunderbare Haupt- und Nebencharaktere geschaffen, die man sich anhand seiner bildhaften Beschreibungen bestens vorstellen kann. Der bescheidene Dr. B. kontrastiert mit dem großmännischen McConnor, der wiederum einen Gegensatz zum introvertiert verschrobenen Schachmeister Czentovic bildet.

Erwähnenswert sind die Anmerkungen sowie das informative Nachwort von Jeffrey B. Berlin, das sowohl biografische Eckdaten Stefan Zweigs benennt als auch eine historische Einordnung seines Werks vornimmt.

Der Penguin Verlag hat seine bunte, im englischen Sprachraum bekannte, Klassikeredition nun auch deutschen Lesern zugänglich gemacht. Die Schachnovelle gehört zu den ersten sechs Sommertiteln 2021, weitere Bände dieser bezahlbaren, handlichen Taschenbuchausgaben werden folgen. Sie bilden einen farbenfrohen Hingucker in jedem Bücherregal.

Es ist zu wünschen, dass die Schachnovelle in dieser modern frischen Ausgabe viele neue Leserschichten erreicht. Dieses fesselnde kurze Werk kann man getrost auch Menschen empfehlen, die den Einstieg in die Welt der klassischen Literatur suchen. Große Empfehlung!



von: Charles Lewinsky
von: György Dalos
von: Wolfgang Schorlau
 

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
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Rhönrand bei Fulda
Danke für die einfühlsame Rezension, die dem Buch absolut gerecht wird!
Nur hier würde ich widersprechen: "... nicht gefoltert, aber dem Nichts ausgesetzt ...."
Auch Deprivation ist Folter, ich würde ergänzen "nicht körperlich gefoltert".
Zu diesem Thema habe ich übrigens in Lems Sterntagebüchern eine interessante Episode gelesen, in der ein Wissenschaftler es fertig bringt, die menschliche Seele vom Körper zu isolieren und in einem Kästchen abzulegen. Die Seele ist unsterblich, hat aber, da keine sinnliche Erfahrung (somit auch kein Kontakt) möglich ist, keinerlei Input mehr. Der Wissenschaftler hält das für eine tolle Entdeckung und ist ganz erschrocken, als man ihm vorhält, dass das die schlimmste aller Foltern sei.