Rezension (5/5*) zu Schachnovelle: Penguin Edition von Stefan Zweig

Die Häsin

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Buchinformationen und Rezensionen zu Schachnovelle: Penguin Edition von Stefan Zweig
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Zwei gegensätzliche Weltbilder

Die "Schachnovelle" ist Stefan Zweigs bekanntestes Werk - eigentlich schon zum Lesekanon gehörig; ein Buch, das "man kennen sollte". Wie schon anderswo hier im Forum erwähnt, kann der Titel jemandem, der sich mit Schach nur wenig auskennt, etwas kopfscheu machen. Doch dazu besteht gar kein Anlass; Schachwissen ist nicht Voraussetzung.

Auf einer längeren Seereise nach Buenos Aires begegnet der Erzähler einem leibhaftiger Schachweltmeister, eine Berühmtheit. Leider hat diese Berühmtheit, abgesehen vom Schach, wenig Rühmliches an sich. Das Schachgenie Mirko Czentovic hat außer Schach nichts zu bieten - er ist nicht nur ungebildet, er ist auch weder fähig noch willens, sich zu bilden; er kann außer Schach gar nichts und hat keinerlei Charisma. Trotzdem sind einige Mitreisende ganz wild darauf, ihn zu Schachpartien herauszufordern - wofür sich Czentovic gut bezahlen lässt. Natürlich gewinnt er. Bei der nächsten Partie, die Revanche bringen soll, mischt sich plötzlich ganz leise und unauffällig ein weiteres Schachgenie ein: Dr. B, die eigentliche Hauptfigur des Romans.

Dr. B's Lebensbericht (den der Erzähler aus ihm herausfragt) nimmt einen großen Teil der Erzählung ein. Ihn hat längere Gefangenschaft unter den Nazis nachhaltig geprägt: Während seiner Inhaftierung erfuhr er keinerlei geistige Anregung, weder durch Lesen noch durch Gespräche oder sonst irgendeine Abwechslung, gar nichts. Diese psychische Folter dauert an und führt beinahe zum psychischen Zusammenbruch, bis Dr. B beginnt, mit einem geklauten Schachbüchlein und selbstgebastelten Figuren Schachpartien nachzuspielen. Er schafft es am Ende, seine Imaginationskraft derart zu schulen, dass er gegen sich selbst spielen kann - eine unvorstellbare geistige Anstrengung, durch die er seinen Intellekt in zwei Denkschienen, "ich schwarz" und "ich weiß", aufspalten muss. Dadurch entgeht er zwar der quälenden Deprivation, erleidet aber einen dauerhaften psychischen Schaden, den er "Schachvergiftung" nennt. Der Arzt hat ihm das Schachspiel eigentlich verboten.

Mit Czentovic und Dr. B treffen zwei gegensätzliche Persönlichkeiten aufeinander, die gegensätzliche Weltbilder verkörpern. Bei Czentovic die Fähigkeit zu mathematischer Berechnung, gekoppelt mit völliger Phantasie- und Kulturlosigkeit. Bei Dr. B der verfeinerte Intellekt, das reiche Denk- und Vorstellungsvermögen und die Abhängigkeit von geistiger Anregung. (Es wäre interessant, zu sehen, wie Czentovic unter den gleichen Haftbedingungen reagiert hätte!) Zu Recht wird die Novelle als Spiegelung der geistigen Umwälzung zwischen den Kriegen verstanden. Hierzu gibt das kenntnisreich geschriebene Nachwort in der Penguin-Ausgabe noch einige interpretatorische Hinweise; außerdem erfährt man Interessantes über die Entstehung der Novelle.

Stefan Zweigs erzählerisches Können, seine psychologische Schärfe und die hochrangige Sprache machen die Erzählung zu einer reichen, berührenden Leseerfahrung. Man kann die Präzision seiner Wortwahl, die Eleganz seines Stils gar nicht hoch genug loben. Nichts daran wirkt altertümlich und unzeitgemäß. Im Gegenteil, der klare, einfühlsame Erzählstil ist eine Wohltat. Dringende Leseempfehlung!





 

Wandablue

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Verschiedene Weltbilder habe ich damals jedoch nicht gesehen. Vllt habe ich zu einseitig gelesen, damals stand Spannung noch hoch im Kurs. Dabei übersieht man manches.
 
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Die Häsin

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11. Dezember 2019
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Verschiedene Weltbilder habe ich damals jedoch nicht gesehen. Vllt habe ich zu einseitig gelesen, damals stand Spannung noch hoch im Kurs. Dabei übersieht man manches.
Das Nachwort stellt diese Deutung heraus. Man kann die Schachnovelle demnach als Sinnbild für eine geistige Umwälzung deuten, die zu dieser Zeit in Europa stattfand und die Zweig in hohem Maße umgetrieben hat.