Rezension (5/5*) zu Sarah Jane: Roman von James Sallis

Literaturhexle

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2. April 2017
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Ringen mit den Dämonen der Vergangenheit

Das Leben von Ich-Erzählerin Sarah Jane ist bisher alles andere als stringent verlaufen. Aufgewachsen ist sie als Tochter eines Hühnerzüchters mit einer selten anwesenden Mutter. Früh verlässt Sarah das Elternhaus, verdingt sich in verschiedenen Jobs, hat wechselnde Freunde. Nirgends bleibt sie lange. Sie kommt zur Army, muss im Einsatzland schlimme Dinge erleben. Sie geht zur Polizei und wird Cop in Farr, einer Kleinstadt in den amerikanischen Südstaaten. Hier lernen wir sie in der Gegenwartserzählung kennen.

Mit ihrem Mentor, Sheriff Cal, versteht sie sich nicht nur blendend, ihrer beider schmerzhaften Erlebnisse als Kriegsveteranen führen sie zu einer Art Seelenverwandtschaft. Als Cal plötzlich verschwindet, wird Sarah befördert und findet sich fortan als Gesetzeshüterin mit Sheriffstern wieder. Die Suche nach ihrem Vorgesetzten gestaltet sich schwierig, auch er hatte offensichtlich Geheimnisse. Als sogar das FBI in Farr zu ermitteln beginnt, wird es immer mysteriöser.

Es ist nicht einfach, dieses Buch zu beschreiben, das zweifellos Krimi-Elemente enthält, aber eigentlich so viel mehr ist als ein Kriminalroman. Es ist ein Stück Literatur, das eine Frau in den Fokus stellt, die es nicht immer leicht im Leben hatte, die trotz ihrer Jugend schon große Verluste verschmerzen musste und in ihrer Zurückgezogenheit wie eine einsame Wölfin lebt. Sarah ist keine Heldin, sie erzählt sprunghaft aus ihrem Leben. Man muss aufmerksam sein, um jeden Zeitenwechsel und Zusammenhang mitzubekommen. Zudem ist Sarah eine unzuverlässige Erzählerin, nicht alle ihre Informationen sind für die Haupthandlung relevant, vieles dient nur dazu, die Protagonistin kennenzulernen und vor allem besser verstehen zu können. Der Roman verfügt über mehrere Ebenen. Zwischen den Zeilen verstecken sich reichlich Lebensklugheit und Poesie, die Sarahs Gefühlslagen empathisch in Szene setzen. Die Sprache hat mich von Beginn an in ihren Bann gezogen – einfach fabelhaft!

Es gibt einen dunklen Fleck in Sarahs Biografie, über den sie wenig berichtet, den sie nur umkreist. Man spürt, wie er an ihr nagt, wie er sie rastlos macht und an sich zweifeln lässt. Obwohl ihr Leben ganz offensichtlich in Farr zur Ruhe gekommen ist, sie den Polizeialltag wunderbar im Griff hat und dort Anerkennung genießt, bleibt eine vergangene Rechnung offen.

Der ungeheure Reiz des Romans liegt in seinen vielschichtig gezeichneten Figuren, in seiner lakonischen, tiefgründigen Sprache sowie der verschachtelten Handlung, die einen wachen, aufmerksamen Leser erfordert. Der Autor verfolgt mehrere Handlungsstränge, die in verschiedenen Zeiten und Orten spielen. Dafür braucht man anfangs etwas Geduld, zum Ende hin führt er alles zusammen, die wichtigsten Fragen werden beantwortet. Es bleibt jedoch noch Platz für eigene Gedanken und Spekulationen. Insofern hat die Geschichte Ähnlichkeiten mit dem richtigen Leben, in dem es auch nicht immer für alles eine Lösung gibt. Manches kann man eben nicht mehr ändern.

Mir hat „Sarah Jane“ ein grandioses Lese-Erlebnis mit einer komplexen, glaubwürdigen Protagonistin beschert. Wer jedoch einen geradlinigen Kriminalfall mit schlüssiger Auflösung erwartet, wird hier möglicherweise enttäuscht sein. Ich würde den Roman als literarischen Kriminalroman bezeichnen. Er ist etwas für Feinschmecker, die das Besondere lieben. Mich hat dieses Buch restlos überzeugt. Ich freue mich mit Autor und Verlag, dass der Roman nun schon den zweiten Monat auf der Krimibestenliste des Deutschlandfunks (Platz 2 im Oktober 2021 ) zu finden ist. Damit sollte ihm eine breite Leserschaft gewiss sein. Ich spreche eine riesige Empfehlung mit Höchstwertung aus.