Rezension Rezension (5/5*) zu Orchis: Roman von Verena Stauffer.

Mikka Liest

Bekanntes Mitglied
14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
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Die Königin der Orchideen

“Orchis” ist:

Ein phantasievoller Abenteuerroman. Ein herrlicher Ausflug in die bunte Historie der Botanik. Die Geschichte eines seelischen Absturzes in Wahn und Obsession. Magischer Realismus. Ein kafkaeskes Märchen.

Lesenswert.
Die Handlung nimmt immer wieder überraschende Wendungen, sie ist so unvorhersehbar – und dadurch hochinteressant und spannend! – wie ihr unzuverlässiger Erzähler in Gestalt des jungen Botanikers Anselm.

Der schwankt zwischen wissenschaftlicher Kühle und leidenschaftlicher Besessenheit, zwischen lähmenden Selbstzweifeln und eitler Selbstherrlichkeit. Mal will er im Alleingang (ohne fundierte wissenschaftliche Grundlage) Darwins Theorien widerlegen, ergeht sich schon in Tagträumen, in denen er hingebungsvoll bewundert und gefeiert wird, dann scheint ihm jäh alles verloren oder er sabotiert einen eigenen Erfolg.

Immer wieder verliert er sich in sich selbst und dabei jeden Bezug zur Realität.
Er hat Wahnvorstellungen, die ihn mal beleben und begeistern, mal quälen – und ihn zeitweise gar in die Nervenheilanstalt bringen.

Nur angedeutet wird, dass Anselm möglicherweise homosexuell ist, was ihm selber keinesfalls bewusst wird. Er empfindet schwärmerische Begeisterung für einen Guide namens Isaac, er vergleicht die Form einer Orchidee, die er als wunderschön empfindet, mit der Form menschlicher Hoden. Es spielt keine direkte Rolle für die Handlung, trägt aber möglicherweise zu Anselms emotionalem Absturz bei, da sowohl Isaac als auch die Orchidee Teil einer markerschütternden Enttäuschung werden.

Anselms überbordende Fantasie ist Fluch und Segen zugleich, und durch seine Augen präsentieren sich die Geschehnisse dem Leser geradezu schmerzhaft intensiv.

Oh, diese Gerüche, Geräusche, Farben, Texturen…
Verena Stauffers Schreibstil ist im wahrsten Sinne des Wortes sinnlich, dabei bildgewaltig und expressiv. Man sieht den Dschungel geradezu vor sich in seiner Explosion von Farben, riecht den schweren Duft unzähliger Blumen, hört das Summen der Insekte, spürt die samtenen Blüten der von Anselm so geliebten Orchideen…

Dann wieder wirken die von ihr beschworenen Szenen surreal, manchmal unerklärlich düster und bedrohlich – Wahnvorstellung und Realität verschwimmen.

Als Leser verliert man sich mit Anselm in dieser Zwischenwelt.
Reist er wirklich nach China und fährt dort in einer opulenten Dschunke seiner ‘Braut’, der ‘Königin der Orchideen’, entgegen? Es gibt lange Passagen, in denen man als Leser nicht mehr unterscheiden kann (oder soll?), was in der Realität geschieht und was nur in Anselms verwirrtem Geist.

Die Autorin verzichtet auf eindeutige, klare Erklärungen, die meines Erachtens die Wirkung der Geschichte nur geschmälert hätten. Bei aller Farbenpracht ist dies ein Buch der Zwischentöne und des leisen Zwiespalts.

FAZIT

Ein junger Botaniker erlebt auf einer Expedition nach Madagaskar sowohl Erfüllung als auch grausamste Enttäuschung und verliert darüber den Bezug zur Realität: in seiner Wahrnehmung wächst aus seiner Schulter eine wunderschöne Orchidee. Seine Eltern wissen sich nicht anders zu helfen, als ihn in eine Nervenheilanstalt einzuweisen.

Die Handlung weiß immer wieder zu überraschen. Die zwiespältige Innenwelt des Protagonisten und seine psychische Erkrankung werden mit feinem Sinn für Psychologie ausgeleuchtet und gleichzeitig wie ein kafkaeskes Märchen erzählt – doch es ist vor allem der wortgewaltige Schreibstil, der mich bezaubert hat.

Diese Rezension erschien zunächst auf meinem Buchblog:
https://wordpress.mikkaliest.de/2019/02/13/rezension-verena-stauffer-orchis/