Rezension Rezension (5/5*) zu Nussschale von Ian McEwan.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Buchinformationen und Rezensionen zu Nussschale von Ian McEwan
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- ein Baby erzählt von tödlichen Intrigen.

Ich habe den Roman im Rahmen einer Leserunde hier gelesen, auf der wie immer diskutiert wurde - dieses Mal vor allem über die ungewöhnliche Erzählperspektive.




Die Erzählperspektive
Da ich im Vorfeld überhaupt nichts über den Roman gelesen habe, hat mich der erste Satz sehr überrascht:

"So, hier bin ich, kopfüber in einer Frau." (S.9)

Es hat dann noch ein paar weitere Zeilen gebraucht, bis ich mir sicher war, dass in diesem Roman der Erzähler ein ungeborenes Baby im neunten Monat der Schwangerschaft ist. Es macht sich Sorgen,

"denn ich höre Bettgeflüster, das von einer tödlichen Intrige kündet, und zittere bei dem Gedanken an das, was mich erwartet." (S.10)

Bevor diese Intrige näher erläutert wird, legt uns der Erzähler dar, dass er glücklich ist, in der zivilisierten Welt mit ihren Vorzügen wie "Hygiene, Ferien, Narkosemittel, Leselampen, Apfelsinen im Winter" (S.12) aufzuwachsen. Gleichzeitig sieht es Europa als "verkalkt und überwiegend altersmilde, von den eigenen Geistern heimgesucht, wehrlos gegen Brutalität und Tyrannei, seiner selbst unsicher und zugleich ersehntes Ziel Millionen Leidender." (S.12)

Woher diese Weit- und Weltsicht? McEwan hat eine clevere Antwort darauf gefunden, die er größtenteils bis zum Ende beibehält. Das Baby bezieht sein Wissen aus dem Radio und aus Podcasts, vorwiegend Ratgeber, die seine Mutter hört. Und natürlich nimmt es das Gesagte um sich herum wahr - die differenzierte Weltsicht und die philosophischen Gedanken muten nur zu Beginn seltsam an, dann hat man sich als Leser/in daran gewöhnt, dass hier eine besondere Form des allwissenden Erzählers vorliegt, der trotzdem nicht über seine "Grenzen" hinaussehen kann. So bleibt er in einigen Situationen auf Spekulationen angewiesen, was erheblich zur Spannungssteigerung beiträgt.

Inhalt
Trudy, die Mutter des Ich-Erzählers, hat ihren Ehemann, den Dichter John Cairncross,verlassen, um mit seinem Bruder, einem windigen Bauunternehmer zusammenzuleben - und zwar in Johns Haus.
Die beiden wollen John loswerden und das Haus verkaufen - so viel zur tödlichen Intrige.
Der Zustand des Hauses ist desolat - es müsste dringend renoviert werden und überall liegt Müll, was das Chaos der Umstände verdeutlicht.
Claude, der intellektuell eher minderbemittelt scheint, "dieser schwachköpfige Tölpel" (S.35), ist keiner Situation wirklich gewachsen.
Trudy hat den Wunsch den zukünftigen Vater ihres ungeborenen Kindes zu beseitigen, damit sie ein neues Leben anfangen kann. Ihre Beziehung scheint auf sexueller Begierde und dem Wunsch nach Reichtum zu gründen. Trotzdem ist das Baby in einer Art Hassliebe mit seiner Mutter verbunden, nährt sie es doch - auch mit Alkohol. Das sind die verstörendsten Szenen im Roman. Trudy trinkt einfach zu viel und macht aus ihrem Ungeborenen einen Weinexperten - kann man durch die Nabelschnur diese Nuancen wirklich schmecken?
Großartig sind die Schilderungen der sexuellen Aktivität des Paares aus der Sicht des ungeborenen Kindes - das ist wirklich komisch, denn Claude drängt sich dem Ungeborenen wortwörtlich auf.

John taucht zunächst gar nicht auf, so dass man geneigt ist, ihn als Opfer zu sehen, da das Ungeborene Folgendes annimmt,

"dass er nichts von Claude weiß, dass er nach wie vor bis über beide Ohren in meine Mutter verliebt ist und hofft, eines Tages wieder mit ihr zusammenzuleben (...). Dass er ein erfolgloser Dichter ist, aber dennoch weitermacht. Dass er einen bettelarmen Verlag besitzt und leitet (...). (S.23)

Da es sich um einen Kriminalroman handelt, wird von der weiteren Handlung nicht mehr verraten, um die Spannung, die sich im Laufe des Romans steigert, nicht vorwegzunehmen.

Bewertung
Ich muss zugeben, dass mich diese ungewöhnliche Erzählperspektive von Anfang an fasziniert hat. Natürlich weiß der Säugling mehr, als er wissen kann und verlässt trotz allem nie ganz die Grenzen seiner Erkenntnis. Seine Ansichten über die Welt und seine philosophischen Gedanken heben den Roman über einen Krimi hinaus und machen ihn zu einem klugen, satirischen und außergewöhnlichen literarischen Werk.

"Keine Wahrheit schränkt das Leben so sehr ein wie die folgende: Es ist immer jetzt, immer hier, nie dann und da." (S.56)

Dass McEwan ein besonderer Erzähler mit guter Beobachtungsgabe ist, ist mir auch beim Roman Honig bewusst geworden. Er vermag die Leser/innen gekonnt zu täuschen, auch wenn bei "Nussschale" das Ende nicht ganz so überraschend, aber durchaus schlüssig und natürlich ist.

Faszinierend ist neben der unbedingten Liebe des Säuglings auch sein übermächtiger Wunsch zu leben, er will unbedingt werden, diese Welt da draußen kennen lernen.

Ein Hommage an das Leben, ein satirischer Kriminalroman über Liebe, Verrat und Leidenschaft, kluge Ansichten über die Welt, philosophische Exkurse - was will man mehr?

 
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