Rezension Rezension (5/5*) zu Noch alle Zeit: Roman von Alexander Häusser.

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.168
49
Buchinformationen und Rezensionen zu Noch alle Zeit: Roman von  Alexander Häusser
Kaufen >
Auf der Suche nach dem verlorenen Glück


Edvard ist Anfang 60, als seine Mutter stirbt. Er lebte mit ihr zusammen und pflegte sie bis zum Ende. Versteckt im Schrank findet er ein auf seinen Namen ausgestelltes Sparbuch. Die über Jahre andauernden, unregelmäßigen Einzahlungen kamen aus Norwegen. Sofort stellt er einen Bezug zu seinem Vater her, der am Tag nach Edvards zehntem Geburtstag wegfuhr und niemals wiederkehrte. Laut Aussage der Mutter ist er tot. Die Mutter hatte ein dominierendes, einnehmendes Wesen, mit dem sie die Aufmerksamkeit des Sohnes für sich beanspruchte.
„Die Frau ohne Mann und der Junge ohne Vater wurden zur verschworenen Gemeinschaft. Edvard wuchs buchstäblich über sich hinaus, erhob sich über die anderen Kinder im Ort und in der Schule. Wer von ihnen sorgte schon für seine Mutter?“ (S. 57)
Da es Edvard nie gelang, sich von der Mutter zu emanzipieren, war die Beziehung zu seiner Jugendliebe Elvie zum Scheitern verurteilt – eine Tatsache, die ihn heute noch schmerzt, wie in vielen Erinnerungen verdeutlicht wird.

Edvard will der Spur des Vaters folgen. Er bricht nach Norwegen auf. Auf der Reise begegnet er Alva. Die junge Frau ist Journalistin und in ihrem Leben noch nicht angekommen: Sie hat eine Beziehung mit ihrem Chef sowie eine kleine Tochter, deren Erziehung sie aber ständig überfordert, so dass das Kind oft bei seinem Vater oder der Oma sein muss. Alva fühlt sich zerrissen und sehnt sich nach einem beruflichen Durchbruch, der ihr eine Reportage über die magischen Orte Norwegens bescheren soll. „Mit den magischen Orten käme Ordnung in ihr Leben – Ordnung und Geld, und sie würden auch gemeinsam Urlaub machen können, wie alle es taten.“ (S. 46) Trotz all dieser Hoffnung wirkt Alva zerrissen: Immer hat sie Kopfhörer auf den Ohren, um in die Musik abtauchen zu können. Auch sehnt sie sich nach ihrer Tochter und hat doch Angst, ihr nicht zu genügen…

In zahlreichen Rückblicken erfährt der Leser immer mehr über die Vergangenheit der beiden Protagonisten, die sie ihm näher bringen und ihr Verhalten erklärbar machen.
Bereits auf der Fähre treffen die beiden einsamen und vom Leben verwundeten Seelen aufeinander. Zunächst ist Edvard derjenige, der Alva hilft. Später verkehren sich die Rollen und Alva unterstützt Edvard, der nach seinem überstürzten Aufbruch nun im fremden Land sehr hilflos wirkt. Ihre journalistischen Fähigkeiten kommen ihm bei der Suche nach seinem Vater zu Gute. Sie mieten ein Auto und fahren los. Auf dem Weg durch Norwegen besuchen sie auch die magischen Orte, deren beruhigende Atmosphäre Alva ein Stückweit zu sich selbst führt. Im Grunde sind sie beide auf der Suche. Die Reise mit der ungeplanten Begleitung eröffnet ihnen neue Perspektiven, bleibt aber nicht immer konfliktfrei. An der Annäherung der beiden ungleichen Menschen teilzuhaben, ist ein intensives Lesevergnügen.

Alexander Häusser hat ein unglaublich sicheres stilistisches Sprachempfinden. Seine Figuren sind mehrdimensional, haben Ecken und Kanten. Seine Geschichte findet nicht auf der Oberfläche statt, sondern in der Tiefe. Jeder Satz hat Bedeutung, jedes Wort ist bewusst gesetzt, wodurch Empfindungen, Erinnerungen, Szenen und Dialoge sehr glaubwürdig und empathisch rüberkommen. Die Figuren erzeugen Nähe, ohne auch nur im geringsten kitschig zu sein.

Der aufmerksame Leser wird belohnt: viele Zusammenhänge erschließen sich im Verlauf der Lektüre, das Buch ist eine Fundgrube schöner Sätze, stimmiger Metaphern und Formulierungen. Die Sprache ist ruhig, eindringlich und poetisch, auch Dialogwitz findet sich. Der Autor liebt offensichtlich Norwegen und seine faszinierenden Landschaften mit Fjorden, Seen und Bergen. Spürbar wird das während des gesamten Romans und in Sätzen wie diesem: „Der Wind kämmte die Gräser seidig. Sie fuhren an grün leuchtenden Berghängen vorbei, am Himmel entlang, im Granit eingeschnitten auf endlosen Serpentinen immer höher hinauf, immer weiter, ohne Zeit, mit aller Zeit.“ (S. 179)
Die Zeit steht nicht nur im Titel, sondern ist eines der fortlaufenden Motive des Romans. Neben Edvard und Alva lernt man auch viel über Norwegens Vergangenheit kennen. Das Ende des Romans rundet die Geschichte glaubwürdig ab. Nicht alles wird auserzählt, aber die beiden Hauptfiguren haben zum Glück „Noch alle Zeit“, um ihrem Leben eine neue Richtung zu geben.

Ich habe diesen Roman zweimal innerhalb eines Jahres genossen - einfach weil er mich so begeistert hat. Er ist ein Buch, bei dem man mit jeder Lektüre noch etwas mehr entdeckt und der sich in die überschaubare Reihe meiner absoluten Lieblingsbücher einreihen darf. „Noch alle Zeit“ eignet sich bestens für Diskussionsrunden und Lesekreise.

Unbedingte Leseempfehlung!


 

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.381
21.192
49
Brandenburg
Wunderschöne Naturbeschreibungen .... das mag ich ja. Aber ich finde es noch immer schwer nachvollziehbar, dass man sein Kind ohne wirtschaftliche Not abschiebt. Kommt das jetzt in Mode?
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.168
49
Aber ich finde es noch immer schwer nachvollziehbar, dass man sein Kind ohne wirtschaftliche Not abschiebt.
Genau das hat mich auch gestört. Passt aber zur Figur, die ziemlich egoistisch auf Selbstfindungstour ist. Sie weiß das Kind gut versorgt, aber die Konflikte kommen hoch. Das Kind hat nämlich auch Gefühle. Sehr stimmig alles. Man traut den beiden am Ende einen Neuanfang zu. Ohne Kitsch. Und vor allem ohne eine ungleiche Bettgeschichte.
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka