Rezension Rezension (5/5*) zu Niemand weiß, dass du hier bist: Roman von Nicoletta Giampietro.

Querleserin

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30. Dezember 2015
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Wadern
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Roman gegen das Vergessen

Die Ereignisse in Deutschland während der Zeit des Nationalsozialismus und des 2.Weltkrieges sind aus vielen Büchern gegen das Vergessen präsent - ob aus Sicht der Bevölkerung, der Verfolgten, KZ-Insassen oder aus der Perspektive Kinder und Jugendlicher, die sich von der Indoktrination haben blenden lassen -

- wie der Protagonist des Romans von Giampietro, der 11-jährige Lorenzo Guerrini, aus dessen Ich-Perspektive der Roman erzählt wird. Die Handlung beginnt im Jahr 1942 in Siena, wo Lorenzos Großvater, seine Tante Chiara, eine Lehrerin, sowie deren gläubige, katholische Haushälterin Cesarina leben.

Bis zu diesem Zeitpunkt hat Lorenzo in Tripolis, Libyen, gelebt, das von den Italienern kolonialisiert gewesen ist. Obwohl sein Vater eine Kriegsverletzung hat, wird er erneut in den Kampf in Libyen geschickt, während seine Mutter sich bemüht, seine Rückkehr in Rom zu erwirken. Daher ist Lorenzo nun in der Obhut seiner Verwandten in Siena.

Lorenzo freundet sich mit Franco Tacconi an, dessen Eltern einen Lebensmittelladen im gleichen Haus wie die Guerrinis besitzen. Die beiden Jungen teilen die Auffassung, dass der Krieg etwas Heroisches sei, man müsse für Ehre und Vaterland kämpfen - eine Einstellung, die ihnen in der Schule eingetrichtert wird.

"Mamma und Zia Chiara hatten keine Ahnung vom Krieg. Jetzt, mit den Deutschen zusammen, unter der Führung Rommels und meines Vaters, würden wir siegen. Wir würden die Engländer ins Meer zurückwerfen. Papà würde ein Held sein." (18)

Sie sind von Mussolini begeistert, der Italien ihrer Meinung nach, wieder zu einem Land gemacht hat, auf das sie stolz sein können. Ihr Lehrer vertritt dazu eine simple Meinung:

"Ein Junge, der zwar gehorcht, aber zugleich fragt >Warum?<, ist wie ein Bajonett aus weichem Bleich. Was sagt Mussolini dazu? Gehorcht, weil ihr gehorchen müsst!" (73)

Sie sind beseelt vom Faschismus, das Wort

"kommt von >fascio< [=Rutenbündel]. Deshalb ist das Symbol des Faschismus ein Bündel von dünnen, eng zusammengeschnürten Stangen. Diese Stangen stellen die einzelnen Italiener dar." (63f.)

Als Lorenzo erkennt, dass seine Tante Chiara seine Einstellung nicht teilt, spioniert er ihr hinterher und findet heraus, dass sie heimlich jüdische Kinder unterrichtet, die nicht mehr in die Schule gehen dürfen. Obwohl er die Rassengesetze selbst nicht nachvollziehen kann -

"Waren denn die nettesten Menschen in Siena alle jüdisch?" (149)

- ist er mit dem Handeln seiner Tante nicht einverstanden, die ihn jedoch mit seiner Einstellung konfrontiert:

"Du bist in einer Fantasiewelt voller Pathos und Helden aufgewachsen. Aber es nicht die echte Welt. In der echten Welt wirst du deine Kindheit schneller verlieren als deinen nächsten Milchzahn." (92)

Und sie hat Recht - Lorenzo schließt Freundschaft mit dem jüdischen Jungen Daniele und als sich die geschichtlichen Ereignisse in Siena überschlagen, muss er eine wichtige Entscheidung treffen.

Bewertung
Der Roman hat mich in vielerlei Hinsicht angesprochen, da

- er einen Einblick in die italienische Geschichte während des 2.Weltkrieges gibt,
- er sehr differenziert die verschiedenen Parteien darstellt, ob Partisanen, deutsche Wehrmachtssoldaten oder italienische Faschisten,
- er glaubwürdig aufzeigt, wie sich Lorenzo weiterentwickelt, welche inneren Beweggründe ihn antreiben und zwischen welchen Konflikten er steht,
- der Protagonist eine Identifikationsfigur für Jugendliche bietet,
- er mit einem realistischen Ende aufwartet,
- er eine für die kindliche Perspektive adäquate Sprache findet, die Lorenzos Handeln nachvollziehbar macht.

Lesenswert und meines Erachtens gerade für Jugendliche geeignet.