Rezension Rezension (5/5*) zu Nie war ich furchtloser: Autobiographie von Inge Viett.

Matzbach

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31. Januar 2020
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OWL
Aus dem Innenleben der RAF

Wie bewertet man ein Buch, mit dessen politischen Aussagen man nicht übereinstimmt? Sollte diese Tatsache Auswirkungen auf die Vergabe der Sterne haben? Ich denke nein.

Inge Vietts Autobiographie beschreibt minutiös ihren Weg in den bewaffneten Kampf während der 70er Jahre. Aus recht verwahrlosten Ursprüngen kommend, sucht sie nach Sinn in ihrem Leben, den sie erst in der Berliner Subkultur findet. Im Umkreis der Haschrebellen gelangt sie zur Bewegung 2. Juni, die der Staatsmacht aus Empörung über den Tod Benno Ohnesorgs in Guerillamanier gegenübertritt. Das Leben in der Illegalität ist geprägt durch die Planung von Aktionen, Gefängnisaufenthalten und Ausbrüchen, immer wieder unterbrochen durch Ausbildungsaufenthalte im nahen Osten.

Nach dem Scheitern des Stadtgueriila-Prinzips schließt sie sich kurzzeituig der RAF an, bis sie in Paris einen Polizeibeamten zum Krüppel schießt. Danach zieht sie sich in die DDR zurück, um dort ein beinah kleinbürgerliches Leben zu führen.

Das alles ist äußerst interessant zu lesen, man erfährt auch durchaus Neues, so etwa über die Unterschiede zwischen der Bewegung 2. Juni und der noch bornierteren RAF, die auf den gesellschaftlichen Rückhalt ihrer Aktionen gar keinen Wert legte und sich als elitäre Avantgarde sah. Dass die letzten Attentate nur noch der eigenen Daseinsberechtigung galten, wird durch Vietts Beschreibung besonders deutlich.

Auffällig ist der Impetus des Rechthaberischen, der immer wieder durchschimmert. Besonders deutlich wird dies in ihren Stellungnahmen zur deutschen Geschichte, die - ihrer Lesart nach- immer faschistisch war, wie überhaupt dieser Begriff inflationär gebraucht wird. In diesem Kontext linken Intellektuellen vorzuwerfen, ins Exil gegangen zu sein und nicht den Kampf gegen die Nazis organisiert zu haben, verkennt die Realitäten der Jahre nach 1933. Dass für Inge Viett die Bundesrepublik die Nachfolgerin des Dritten Reiches ist, führt dazu, dass sie die DDR deutlich verklärt. Und, was ich gar nicht verstehe: Wie kann ein Mensch, der durch den Besuch der KZ-Gedänkstätte Buchenwald derartig aufgewühlt wird, wie sie es schildert, den Staat Israel ablehnen?

Trotz allem, wer sich mit der Geschichte des Links-Terrorismus in der Bundesrepublik beschäftigen möchte, kommt an diesem Buch nicht vorbei.