Rezension Rezension (5/5*) zu Nachruf auf den Mond: Roman von Nathan Filer.

parden

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13. April 2014
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Niederrhein
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Buchinformationen und Rezensionen zu Nachruf auf den Mond: Roman von Nathan Filer
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Trauer und Wahn...

\"Ich werde Ihnen erzählen, was passiert ist, denn bei der Gelegenheit kann ich Ihnen meinen Bruder vorstellen. Er heißt Simon. Ich glaube, Sie werden ihn mögen. Wirklich. Doch in ein paar Seiten wird er tot sein. Danach war er nie mehr derselbe.\"

Matthew Homes ist ein begnadeter Erzähler, und Patient der Psychiatrischen Klinik in Bristol. Um dort dem trostlosen Alltag zu entfliehen, schreibt er seine Geschichte auf und die seines Bruders Simon, der im Alter von elf Jahren während des Campingurlaubs in Cornwall starb. Selbst nach zehn Jahren gibt sich Matthew immer noch die Schuld am Unfalltod seines Bruders. Doch eigentlich ist Simon für ihn gar nicht tot und Matthew auch kein gewöhnlicher 19-Jähriger. Matthew leidet an Schizophrenie.


Ich kann jetzt nicht darüber sprechen. Ich habe nur eine Chance, es richtig darzustellen. Ich muss aufpassen. Ich muss es sorgfältig auspacken, nach und nach, damit ich es schnell wieder zusammenfalten und einstecken kann, falls es mir zu viel wird. (S. 19)


Ich muss jetzt darüber sprechen. Darüber schreiben. Über diese Geschichte des neunzehnjährigen Matthew Homes, die wie eine Naturgewalt über mich hergebrochen ist. Leise Töne, sicherlich, angenehm zu lesende, flüssig geschriebene Sätze - aber was für eine Geschichte!
Ein verwirrter Erzähler nimmt den nicht minder verwirrten Leser an die Hand und lässt ihn kreuz und quer an seinem Leben teilhaben. An Erinnerungen, die stimmen können. Aber nicht müssen. An Gefühlen, die tief in ihm vergraben sind, die aber sein Leben bestimmen. Und das seiner Familie. Zerbrochene Leben.


Den größten Spaß machte es, wenn Simon und ich aus unserem Versteck hervorsprangen und Dad niederrangen. So machten wir es, als Simon noch am Leben war, aber später, als Simon nicht mehr lebte, stand ich morgens nie vor meinem Dad auf. Er schaute immer noch um Viertel vor sieben in meinem Zimmer vorbei, wo ich im Bett lag und nicht wusste, wie ich den Tag anfangen sollte. Das muss hart für ihn gewesen sein. (S. 44)


Matthew ist noch ein kleiner Junge, als sein älterer Bruder ums Leben kommt. Simon, der Sonnenschein der Familie, ein Kind mit Down-Syndrom und einem lieben, lächelnden Mondgesicht - er ist einfach nicht mehr da. Und Matthew lebt seither mit Schuldgefühlen, die quälender kaum sein können. Seine Eltern, in ihre eigene Trauer verstrickt, sind ihm kein wirklicher Halt - wie das Leben kitten?


Der Plan sagt mir genau, wie ich meine Tage zu verbringen habe, zum Beispiel dass ich die Therapiegruppen hier in der Hope-Road-Tagesklinik besuchen muss und welche Tabletten ich nehmen muss (...) All das wird für mich aufgeschrieben. (...) Der Plan verfolgt mich wie ein Schatten. Das ist mein Leben. Ich bin neunzehn Jahre alt, und das Einzige, worüber ich in meinem Leben frei bestimmen kann, ist diese Geschichte und wie ich sie erzähle. Allein schon deswegen will ich es nicht vermasseln. Es wäre nett von Ihnen, wenigstens zu versuchen, mir zu vertrauen. (S. 95)


Wir lernen Matthew kennen, als er mit neunzehn psychiatrische Hilfe in Anspruch nimmt, sein Leben in Scherben, desorientiert - und mit Simons Stimme im Kopf. Schizophrenie lautet die Diagnose, Medikamente sind der Versuch des Heilens, Langeweile und Monotonie der Alltag in der Klinik. Doch Matthew beginnt sich auszudrücken. Mit Zeichnungen. Mit Schreiben. Am PC in der Klinik, auf einer alten Schreibmaschine, die seine Großmutter ihm schenkt, zu Hause in seiner winzigen Wohnung.
Das Buch zeigt den Weg, wie diese Geschichte entsteht, täglich fortgeschrieben wird, springend in den Themen, in Zeit und Ort, wechselnd im Schriftbild. Das verwirrt einerseits, andererseits zeigt es unglaublich authentisch auf, wie es in Matthews Kopf zugeht. Was ihn beschäftigt, ablenkt, bedrückt. Matthew weiß selbst nicht, welchen seiner Erinnerungen er trauen kann - und ebensowenig weiß es der Leser. Doch es ergibt sich ein Gesamtbild. Die Trauer. Das Zerbrechen. Der Wahn. Die Hilflosigkeit.


Aber nun hatte er etwas neben den Lichtschalter geschrieben. Es war nicht für meine Augen bestimmt. (...) Ich fuhr mit den Fingerspitzen über die Wörter, die ohne viel Druck mit Kugelschreiber auf die Tapete gemalt waren. Er hatte geschrieben: \'Wir besiegen das Ding, mon ami. Wir besiegen es zusammen.\' (S. 212)


Neben Matthews eigenem Schicksal streift der Autor auch das seiner Familie - niemals zu maßlos oder zu sentimental, fast sachlich oft, doch in dem Schmerz, der einem da in der Tiefe auflauert, gleichzeitig wirklich berührend.
Nathan Filer schafft es außerdem, dem Roman auch ein spannendes Element beizugeben. \'Give some, hold some back\'. Zwar erfährt der Leser gleich zu Anfang, dass Matthews Bruder gestorben ist, doch wird da immer nur etwas angedeutet, vieles aber lange zurückgehalten. Was ist wirklich geschehen in jener Nacht, als Simon starb?


Es war ein schiefes Lächeln, aber was ein Lächeln wirklich zu bedeuten hat, weiß man ohnehin nur, wenn einem das Gesicht dahinter gehört. Alle anderen deuten es so, wie sie wollen. (S. 235)


In vielen Aspekten ein düsterer Roman, durchzogen von gelegentlichem Galgenhumor, dann wieder springt einen ein Schluchzen an. Kein einfacher Roman, aber einer, der die Tiefen auslotet ohne sich darin zu verlieren. Ein Roman, der den Leser eintauchen lässt in die Verwirrung seines Erzählers, der ihn aber am Ende wünschen lässt: Matthew, lebe Dein Leben.

Menschlich und wahrlich beeindruckend.


© Parden

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