Rezension (5/5*) zu Nachleben: Roman. Nobelpreis für Literatur 2021 von Abdulrazak Gurnah

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29. März 2022
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Mainz
Buchinformationen und Rezensionen zu Nachleben: Roman. Nobelpreis für Literatur 2021 von Abdulrazak Gurnah
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Ein Lehrstück über die Ambivalenzen des Kolonialismus

"Nachleben" ist der zuletzt ins Deutsche übertragene Roman des britisch-sansibarischen Schriftstellers Abdulrazak Gurnah, der im Jahr 2021 für sein Werk den Literaturnobelpreis erhielt. In der Begründung der Auszeichnung verweist die Schwedische Akademie unter anderen auf Gurnahs "unbestechliche und leidenschaftliche Auseinandersetzungen mit dem Kolonialismus". Im Zentrum des Romans steht ein düsteres Kapitel der deutschen Kolonialgeschichte, das gerne verdrängt wird: die Besetzung Ostafrikas durch deutsche Kolonialherren. Die Auswirkungen dessen sind bis heute spürbar und das Verdienst Gurnahs ist es, einen unverstellten und wertfreien Blick auf diese Zeit geworfen zu haben. Der Roman erstreckt sich dabei auf die Zeitspanne vom Ende des 19. Jahrhunderts bis hinein in die 1960er Jahre.

Gurnah verbindet seine Auseinandersetzung mit der Kolonialgeschichte Ostafrikas und deren Folgen mit einer Familiengeschichte. Indem er verschiedene Charaktere ins Geschehen einführt und deren Vorzüger und Schwächen aus jeweils verschiedenen Blickwinkeln zeigt, erfahren wir viel über das Leben in Deutsch-Ostafrika. Mitnichten kann man von einer homogenen Region sprechen, denn diese ist im Kern durch Vielfalt geprägt - sei es in religiöser, sei es in ethnischer Hinsicht. Indem wir am Leben der Protaganisten teilhaben, lernen wir viel über die Geschichte des Landes und Besonderheiten des Zusammenlebens. Anfangs lernen wir Ilyas kennen. Er besuchte die deutsche Missionsschule, und wuchs ohne seine Schwester Afiya auf. Als er erfährt, dass diese als Sklavin gehalten wird, sucht er sie auf, nimmt sie mit und bringt ihr Lesen und Schreiben bei. Sie wohnt fortan bei Khalifa und dessen Frau. Nachdem Ilyas sich freiwllig den Askaris, einer deutschen Schutztruppe anschließt, bricht der Kontakt zwischen den Geschwistern wieder ab.

Auch ein anderer junger Mann, Hamza, entscheidet sich, als der erste Weltkrieg ausbricht, den Askaris beizutreten, um so den Kampf der Deutschen gegen die Briten zu unterstützen. Vermittelt über Hamza erfahren wir als Leser Details über die Grausamkeiten der deutschen Schutztruppe. Da Hamza von einem deutschen Feldwebel eine Art Vorzugsbehandlung erhält, wird Hamza auf brutalste Weise zusammengeschlagen und hat Glück im Unglück: er überlebt. Er findet Arbeit in einer ostafrikanischen Küstenstadt, in der er auf Afiya trifft, in die er sich verliebt. Die Beiden werden ein Paar und heiraten. Einige Jahre später wird ihr Sohn geboren, der den Namen des verschollenen Ilyas erhält.

Ilyas junior erfährt von seinem verschollenen Namensvetter und begibt sich später als junger Mann auf Spurensuche. Diese führt ihn nach Deutschland, wo er für seine Recherchen ein Stipendium erhält. Das Ende kommt einem Paukenschlag gleich, aber wird hier selbstverständlich nicht verraten. Gurnah verriet im Rahmen einer Lesung in Frankfurt, dass das Schicksal von Ilyas senior tatsächlich eine reale Entsprechung hat.

Der Roman besticht durch eine hohe Erzählkunst: Gurnah versteht es, gekonnt zwischen notwendiger Faktenpräsentation und fiktiver Romanhandlung zu wechseln. Als Leser erfahren wir sehr viel über die Kolonialisierung Ostafrikas, deren Ambivalenzen sowie auch Nachleben bis heute. Insofern würde ich diesen Roman als Beispiel postkolonialer Literatur einordnen: Er erzählt von der Zeit der Kolonialismus, der aber insofern nicht beendet ist, da er bis heute Spuren hinterlassen hat. Gurnah thematisiert auch die Schwierigkeit Ostafrikas, den Weg in die Unabhängigkeit zu finden. An dieser Stelle verweist er auf Aspekte der inneren Kolonisierung, die darin zum Ausruck kommt, dass Ostafrikaner die Sicht der Kolonialherren , Afrika sei der deutschen Kultur unterlegen, übernehmen. Es ist die Folge einer dem Kolonialismus innewohnenden Ambivalenz. Die deutschen Kolonialherren brachten nicht nur Gewalt ins Land, sondern auch Kultur und Bildung. Dies wird in der Figuren des Hamza wie auch des Ilyas senior verkörpert, wobei letzterem die Zuneigung und Verbundenheit mit Deutschland letztlich zum Verhängnis wird. Die Charaktere fand ich sehr facettenreich behandelt, das Erzähltempo empfand ich als angemessen. Der Roman fesselte mich von der ersten bis zur letzten Seite. Bis heute hallt die Geschichte nach und entfaltete so in einem weiteren Sinne das Titel gebende Nachleben. Ich würde vielen Lesern diese Erfahrung wünschen und bin persönlich der Meinung, dass dieses Buch an Schulen Pflichtlektüre sein sollte, um das oft verdrängte düstere Kapitel deutscher Kolonialgeschichte ins Bewusstsein zu rücken. Insofern betrachte ich Gurnahs Buch als ein Buch gegen das Vergesssen.

Ich bin sehr froh, dass Gurnahs Leistung mit dem Literaturnobelpreis gewürdigt wurde, auch wenn sich dies möglicherweise der Tatsache verdankt, dass er mehr als britischer, denn tansianischer Autor wahrgenommen wird. Den Mut, dem langjährigen Nobelpreis-Anwärter Ngugi wa Thiong'o den Preis zu verleihen, hatte das zuständige Kommitee wohl nicht. Dabei geht dieser Autor sogar noch weiter als Gurnah, indem er dazu zurückgekehrt ist, seine Werke in seiner Stammessprache zu schreiben, um so seinen Widerstand bezüglich der deutschen Kolonialisierung und deren Folgen deutlich zu machen. Aber immerhin wurde Gurnahs Leistung in dieser Hinsicht anerkannt. Gurnah ist meiner Meinung nach ein würdiger Nobelpreisträger, dessen andere Werke ich nun auch sehr gerne lesen und entdecken möchte.