Rezension Rezension (5/5*) zu Mr. Crane: Roman von Andreas Kollender.

Literaturhexle

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2. April 2017
19.480
50.070
49
Viel mehr als eine Liebesgeschichte


Der vorliegende Roman wird auf zwei sich abwechselnden Zeitebenen erzählt.
Im September 1914 kommt der schwer verwundete Leutnant Bernhard Fischer im Sanatorium Badenweiler an. Offensichtlich hat er Lungendurchschüsse und schwere Kriegstraumata erlitten, er spricht nicht und wirkt verwirrt. Aber er liest das Buch “Die rote Tapferkeitsmedaille“ des amerikanischen Schriftstellers Stephen Crane:
„Der Name reißt an Elisabeths Armen, die Schüssel klirrt auf den Boden, rollt ein Stück auf dem Rand und die Handtücher rutschen heraus. Elisabeth lehnt sich an die Wand und schließt die Augen. In der Dunkelheit flirren Lichtflecken.“ (S. 8)
„Ob sie ihn kannte? Mr. Stephen Crane? Natürlich kannte sie ihn, kennt ihn immer noch. Sie trägt ihn bei sich, seinen Blick, seine Berührungen, seine verrückten Geschichten und seine Angst…“ (S. 9)

Elisabeth wird bei der Nennung von Cranes Namen mit ihrer Erinnerung konfrontiert, die den Leser in die zweite Handlungsebene befördert, den Juni 1900, als der berühmte Schriftsteller seine letzten Tage in der Obhut Schwester Elisabeths im Sanatorium Badenweiler verbrachte. Bereits während der ersten Begegnung der beiden liegt ein Knistern in der Luft. Sie verbringen viel Zeit miteinander. Elisabeth verehrt den Schriftsteller, hat er doch eine literarische Figur geschaffen, in der sie sich wiederzuerkennen glaubt. Crane begehrt die junge Frau, macht ihr Komplimente, er ist der erste, der ihr durch Brandnarben versehrtes Gesicht schön findet und es nicht bloß akzeptiert oder gar ignoriert. Zwischen Patient und Krankenschwester entwickelt sich, sehr zum Missfallen von Cranes Gattin Cora, eine Anziehungskraft, die man schwer in Worte fassen kann. Begehren und Verliebtheit münden in eine sexuelle Affäre, in eine Obsession, die ihresgleichen sucht. Kollender scheut sich nicht, diese Leidenschaft beim Namen zu nennen, erotische Szenen werden ungewöhnlich detailliert beschrieben. Diese Deutlichkeit hilft aber zu verstehen, was Crane in Elisabeth auslöst, die bis dahin in ihrer Chancenlosigkeit als Frau feststeckte und sich erst danach befreien kann.

Als todgeweihter, an Tuberkulose erkrankter Mann erzählt Crane im Fieberrausch Erlebnisse aus seinem bewegten Leben, in dem er als Kriegsberichterstatter an verschiedenen Krisenherden unterwegs war. Er macht Elisabeth zu seiner Autobiografin, jedoch berichtet er ungeordnet und konfus – jeweils so, wie es sein gesundheitlicher Zustand zulässt: „Mr. Crane erzählte ja so, wie er sein Leben sah: in Wellenlinien.“ (S. 184) Trotz der fehlenden Stringenz erfährt der Leser viel über den einst mutigen, couragierten, lebensfrohen Mann, der den Kitzel und die Gefahr suchte.

Dieser Roman ist vielschichtig, er erschließt sich nur dem sorgfältigen Leser komplett. Nachdenken und Zurückblättern empfand ich als lohnend. Die Beziehung zu Crane hat auf mehreren Ebenen etwas in Elisabeth ausgelöst. Wir erleben 14 Jahre nach ihrer Begegnung eine ganz andere Frau, eine, die sich aus den Zwängen ihrer Ehe und dem Korsett der Zeit gelöst hat. Sie ist mutiger, bedachter geworden, sie lebt ihre eigenen Wünsche und ihre eigene Sexualität aus. Die beiden Zeitebenen sind hervorragend miteinander verwoben: Leutnant Fischer belegt dasselbe Zimmer wie damals Mr. Crane. Auch für ihn fühlt sich die Krankenschwester in besonderer Weise verantwortlich… Der Roman nimmt zum Ende hin noch einmal Fahrt auf und überzeugt mit seinem Ausgang.

Auch wenn Elisabeth eine fiktive Figur ist, wirken ihre Verhaltensweisen glaubwürdig und authentisch. Was nicht heißen muss, dass man alles gutheißen muss, was sie tut. Sie schickt den Leser durch viele Gefühlslagen.

Insofern ist „Mr. Crane“ der Entwicklungsroman einer jungen Frau Anfang des 20. Jahrhunderts. Er ist aber auch ein Roman, der die Sinnlosigkeit von Kriegen mit ihren unschuldigen Opfern kritisiert und aktuelle Bezüge herstellt. Nicht zuletzt wird uns ein bemerkenswerter Schriftsteller präsentiert, der viel zu früh im Alter von nur 28 Jahren am 5. Juni 1900 im idyllischen Badenweiler starb. Auf sein Leben und Werk wird man auf alle Fälle sehr neugierig gemacht.

Andreas Kollenders Roman hat mich überzeugt. Der Autor verfügt über sprachlichen Variantenreichtum, streut gerne kleine Weisheiten oder humorvolle Szenen ein. Manche Abschnitte sind in kurzen, fragmentierten, aber trotzdem ausdrucksstarken Sätzen verfasst, die der Verfassung des Kranken Tribut zollen. In anderen Abschnitten nimmt der Autor poetische Anlehnungen, spielt mit Licht und Schatten, erschafft eine wunderbar bildhafte Atmosphäre. Alle Figuren sind vielschichtig, glaubwürdig und doch voller Widersprüche. Der Roman ist perfekt durchkomponiert und entfaltet seine vollständige Qualität erst im Rückblick. Er ist ideal für Lesekreise geeignet und ich empfehle ihn uneingeschränkt. Erwähnen muss man die hochwertige und liebevolle Ausstattung des Hardcovers.



 

Literaturhexle

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Ihr macht mich ja richtig verlegen...
Hat mich auch mächtig Zeit gekostet;), ich wollte meine Empfindungen unbedingt in Worte fassen. Es ging mir hier ähnlich wie bei Enrights Schauspielerin. Erst in der Reflexion unď Diskussion habe ich die Qualität des Romans komplett erfassen können. Das spricht doch für Werk und Autor. Leichte Kost wird woanders gelesen;)
 

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