Rezension Rezension (5/5*) zu Mittagsstunde: Roman von Dörte Hansen.

Literaturhexle

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2. April 2017
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Buchinformationen und Rezensionen zu Mittagsstunde: Roman von Dörte Hansen
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Ein grandioser, atmosphärisch dichter Familien- und Dorfroman

Die Mittagsstunde hat eine besondere Bedeutung im fiktiven Örtchen Brinkebüll, das irgendwo im nordfriesischen Flachland in der Nähe von Husum und Niebüll liegt. Die Mittagsstunde beginnt nach dem Essen, das ganze Dorf hat in dieser Zeit zu schlafen, zu schleichen und Ruhe zu halten. Alles andere wird als Störung und öffentliches Ärgernis empfunden, schon die Kinder bekommen das frühzeitig eingeimpft. Der Ort scheint überhaupt aus der Zeit gefallen, jeder kennt jeden, nach außen hält man zusammen, intern gibt es jedoch schon Querelen und Geheimnisse.

Im Mittelpunkt des Romans steht Familie Feddersen. Marret lernen wir auf den ersten Seiten kennen, als sie mit Weltuntergangsphantasien auf Holzpantinen durch den Ort klappert. Sie gilt als „verdreiht“, hat eine geistige Behinderung, die sie kindlich-naiv erscheinen lässt.

„Marret war wie etwas Flüchtiges, Verwehtes, das ständig seine Form veränderte, Sanddüne, Wolke, Quecksilber, sie hatte keine Grenzen. Keine feste Haut, so kam es Ella manchmal vor.“ (S. 37)

Marret hat einen Sohn, Ingwer, dessen Vater vermutlich einer von drei Landvermessern ist, die 1965 für die Flurbereinigung rund um Brinkebüll zuständig und im Gasthof Feddersen untergebracht waren.
„Sie musste aber einen anderen gesehen haben. (…) Einen, der gut kalkulieren, messen und berechnen konnte. Passte alles: Mond und Sterne, Sommernacht, ein Mädchen, das Verstecke kannte und verschwinden konnte. Schönes Fräulein. Gar nichts Weltbewegendes, nur eine kleine, uralte Geschichte, aber Marret kannte sie noch nicht.“ (S. 47)

Marret war damals erst 17 Jahre jung. Ihre Eltern Sönke und Ella haben mit dieser Schwangerschaft natürlich ihre Probleme, letztlich nehmen sie den neugeborenen Jungen aber auf, als wäre es ihr eigenes Kind. Lange Zeit glaubt auch Ingwer, dass sie seine Eltern sind.

Die Autorin spannt einen weiten Bogen über 50 Jahre Dorfgeschichte, über die Entwicklungen und Veränderungen auf dem Lande, die nicht nur für Brinkebüll, sondern für viele ländliche Flecken gelten. Im Fokus steht Ingwer, der seit rund 25 Jahren Teil einer Kieler Wohngemeinschaft ist, zu der auch seine Freundin Ragnhild und Claudius gehören – eine moderne Ménage-à-trois.

Ingwer ist mittlerweile Archäologe und an der Kieler Hochschule tätig, hat sich ein Sabbatjahr eingeräumt und kommt heim nach Brinkebüll, um sich seiner betagten Großeltern anzunehmen. Trotz Ellas zunehmender Demenz ("Sie war in fließenden Gewässern unterwegs, wo Menschen, Zeiten, Orte durcheinandertrieben.“ (S. 49)) schlagen sich die beiden allein durch, sogar die Schankstube ist noch stundenweise geöffnet. Ingwer wird die Vergänglichkeit seiner Großeltern deutlich:
„Den Ehering, der viel zu weit geworden war, er (Sönke) trug ihn jetzt am Mittelfinger. Er wurde immer kleiner, leiser, weniger, er hatte angefangen zu verschwinden. Letzte Takte, Decrescendo.“ (S. 58)

Ingwer kommt zurück in die Dorfgemeinschaft, in der viel geschwiegen wird, niemand ein Recht auf Wahrheit oder Antworten hat. „Er (Ingwer) hing an diesem rohen, abgewetzten Land, wie man an einem abgeliebten Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, das am Bauch kein Fell mehr hatte.“ (S. 18)

Er trifft seine Jugendfreunde wieder, die Nachbarn, die alle geblieben sind. Er selbst hat das vorgesehene Erbe ausgeschlagen, indem er zu den „Studierern“ ging, was heute noch auf ihm lastet. Er muss sich in diesem Sabbatjahr über vieles klar werden, was sein Leben betrifft, er ist doch oft zu passiv gewesen, hat Dinge einfach nur geschehen lassen. Insofern geht es im Roman durchaus auch um eine Selbstfindung, eine Midlife-Crisis. Ingwer muss mit sich selbst ins Reine kommen und glaubt auch, die Vergebung seines Großvaters erlangen zu müssen. Im Zuge der Geschichte darf der Leser auch das ein oder andere überraschende und dennoch glaubwürdige Familiengeheimnis entdecken, wodurch das Buch unglaublich an Spannung gewinnt.

Nach und nach lernt der Leser dabei die Dorfbewohner kennen. Es werden Zusammenhänge aus Vergangenheit und Gegenwart deutlich, ebenso familiäre Probleme und Verstrickungen. Die Autorin verändert dabei die Perspektive, schweift zurück in vergangene Zeiten. Stück für Stück wird so das Ganze deutlich. Das Dorf dabei als Kosmos unter dem Brennglas. Die Flurbereinigung war nur der Anfang. Mit der Zeit wurden landwirtschaftliche Betriebe gezwungen, sich rapide zu vergrößern oder Flächen stillzulegen bzw. Tiere abzugeben. Der Tante-Emma-Laden verlor seine Bedeutung. Verkehrsadern wurden durchs Land getrieben, Schulen zusammengelegt. Das alles bleibt nicht ohne Folgen – auch und gerade für die Menschen nicht. Davon erzählt Dörte Hansen quasi nebenbei, während sie die Familiengeschichte von Ella und Sönke, Marret und Ingwer erzählt.

Das tut sie in einer unglaublich atmosphärischen, teilweise poetischen Sprache. Sie formuliert Sätze zum Niederknien. Gerade im ersten Drittel hatte ich ständig den Bleistift in der Hand. Anschließend ist die Sprache nicht mehr ganz so dicht, was der Spannung und dem Erzählfluss aber entgegen kommt. Manche Abschnitte sind auch komisch, andere haben Galgenhumor, weitere hinterlassen einen Kloß im Hals. Diese Gefühle zu erzeugen ist große Kunst und meisterliches Handwerk.

Ich war schon von Hansens erstem Roman „Altes Land“ sehr beeindruckt. Dieser hier hat mich noch mehr begeistern können. Wahrscheinlich nicht zuletzt, weil ich als Kind der 60/70er Jahre so vieles wiedererkannt habe. Dörfer gibt es nämlich überall, und Dörte Hansen hat das Spezielle, das Besondere, aber auch das Kritische am Dorfleben wunderbar eingefangen und zu Papier gebracht. Dass die Autorin den einzelnen Kapiteln Musiktitel voranstellt, die im Bezug zur Handlung stehen und die man fast alle kennt, empfand ich als weiteren Pluspunkt, als weiteren Zugang zur beschriebenen Zeit. Ein großartiger, atmosphärisch dichter Familienroman – unbedingt lesen!


 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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Die Mittagsstunde hat eine besondere Bedeutung im fiktiven Örtchen Brinkebüll, das irgendwo im nordfriesischen Flachland in der Nähe von Husum und Niebüll liegt. Die Mittagsstunde beginnt nach dem Essen, das ganze Dorf hat in dieser Zeit zu schlafen, zu schleichen und Ruhe zu halten. Alles andere wird als Störung und öffentliches Ärgernis empfunden, schon die Kinder bekommen das frühzeitig eingeimpft. Der Ort scheint überhaupt aus der Zeit gefallen, jeder kennt jeden, nach außen hält man zusammen, intern gibt es jedoch schon Querelen und Geheimnisse.

Im Mittelpunkt des Romans steht Familie Feddersen. Marret lernen wir auf den ersten Seiten kennen, als sie mit Weltuntergangsphantasien auf Holzpantinen durch den Ort klappert. Sie gilt als „verdreiht“, hat eine geistige Behinderung, die sie kindlich-naiv erscheinen lässt.

„Marret war wie etwas Flüchtiges, Verwehtes, das ständig seine Form veränderte, Sanddüne, Wolke, Quecksilber, sie hatte keine Grenzen. Keine feste Haut, so kam es Ella manchmal vor.“ (S. 37)

Marret hat einen Sohn, Ingwer, dessen Vater vermutlich einer von drei Landvermessern ist, die 1965 für die Flurbereinigung rund um Brinkebüll zuständig und im Gasthof Feddersen untergebracht waren.
„Sie musste aber einen anderen gesehen haben. (…) Einen, der gut kalkulieren, messen und berechnen konnte. Passte alles: Mond und Sterne, Sommernacht, ein Mädchen, das Verstecke kannte und verschwinden konnte. Schönes Fräulein. Gar nichts Weltbewegendes, nur eine kleine, uralte Geschichte, aber Marret kannte sie noch nicht.“ (S. 47)

Marret war damals erst 17 Jahre jung. Ihre Eltern Sönke und Ella haben mit dieser Schwangerschaft natürlich ihre Probleme, letztlich nehmen sie den neugeborenen Jungen aber auf, als wäre es ihr eigenes Kind. Lange Zeit glaubt auch Ingwer, dass sie seine Eltern sind.

Die Autorin spannt einen weiten Bogen über 50 Jahre Dorfgeschichte, über die Entwicklungen und Veränderungen auf dem Lande, die nicht nur für Brinkebüll, sondern für viele ländliche Flecken gelten. Im Fokus steht Ingwer, der seit rund 25 Jahren Teil einer Kieler Wohngemeinschaft ist, zu der auch seine Freundin Ragnhild und Claudius gehören – eine moderne Ménage-à-trois.

Ingwer ist mittlerweile Archäologe und an der Kieler Hochschule tätig, hat sich ein Sabbatjahr eingeräumt und kommt heim nach Brinkebüll, um sich seiner betagten Großeltern anzunehmen. Trotz Ellas zunehmender Demenz ("Sie war in fließenden Gewässern unterwegs, wo Menschen, Zeiten, Orte durcheinandertrieben.“ (S. 49)) schlagen sich die beiden allein durch, sogar die Schankstube ist noch stundenweise geöffnet. Ingwer wird die Vergänglichkeit seiner Großeltern deutlich:
„Den Ehering, der viel zu weit geworden war, er (Sönke) trug ihn jetzt am Mittelfinger. Er wurde immer kleiner, leiser, weniger, er hatte angefangen zu verschwinden. Letzte Takte, Decrescendo.“ (S. 58)

Ingwer kommt zurück in die Dorfgemeinschaft, in der viel geschwiegen wird, niemand ein Recht auf Wahrheit oder Antworten hat. „Er (Ingwer) hing an diesem rohen, abgewetzten Land, wie man an einem abgeliebten Stofftier hing, dem schon ein Auge fehlte, das am Bauch kein Fell mehr hatte.“ (S. 18)

Er trifft seine Jugendfreunde wieder, die Nachbarn, die alle geblieben sind. Er selbst hat das vorgesehene Erbe ausgeschlagen, indem er zu den „Studierern“ ging, was heute noch auf ihm lastet. Er muss sich in diesem Sabbatjahr über vieles klar werden, was sein Leben betrifft, er ist doch oft zu passiv gewesen, hat Dinge einfach nur geschehen lassen. Insofern geht es im Roman durchaus auch um eine Selbstfindung, eine Midlife-Crisis. Ingwer muss mit sich selbst ins Reine kommen und glaubt auch, die Vergebung seines Großvaters erlangen zu müssen. Im Zuge der Geschichte darf der Leser auch das ein oder andere überraschende und dennoch glaubwürdige Familiengeheimnis entdecken, wodurch das Buch unglaublich an Spannung gewinnt.

Nach und nach lernt der Leser dabei die Dorfbewohner kennen. Es werden Zusammenhänge aus Vergangenheit und Gegenwart deutlich, ebenso familiäre Probleme und Verstrickungen. Die Autorin verändert dabei die Perspektive, schweift zurück in vergangene Zeiten. Stück für Stück wird so das Ganze deutlich. Das Dorf dabei als Kosmos unter dem Brennglas. Die Flurbereinigung war nur der Anfang. Mit der Zeit wurden landwirtschaftliche Betriebe gezwungen, sich rapide zu vergrößern oder Flächen stillzulegen bzw. Tiere abzugeben. Der Tante-Emma-Laden verlor seine Bedeutung. Verkehrsadern wurden durchs Land getrieben, Schulen zusammengelegt. Das alles bleibt nicht ohne Folgen – auch und gerade für die Menschen nicht. Davon erzählt Dörte Hansen quasi nebenbei, während sie die Familiengeschichte von Ella und Sönke, Marret und Ingwer erzählt.

Das tut sie in einer unglaublich atmosphärischen, teilweise poetischen Sprache. Sie formuliert Sätze zum Niederknien. Gerade im ersten Drittel hatte ich ständig den Bleistift in der Hand. Anschließend ist die Sprache nicht mehr ganz so dicht, was der Spannung und dem Erzählfluss aber entgegen kommt. Manche Abschnitte sind auch komisch, andere haben Galgenhumor, weitere hinterlassen einen Kloß im Hals. Diese Gefühle zu erzeugen ist große Kunst und meisterliches Handwerk.

Ich war schon von Hansens erstem Roman „Altes Land“ sehr beeindruckt. Dieser hier hat mich noch mehr begeistern können. Wahrscheinlich nicht zuletzt, weil ich als Kind der 60/70er Jahre so vieles wiedererkannt habe. Dörfer gibt es nämlich überall, und Dörte Hansen hat das Spezielle, das Besondere, aber auch das Kritische am Dorfleben wunderbar eingefangen und zu Papier gebracht. Dass die Autorin den einzelnen Kapiteln Musiktitel voranstellt, die im Bezug zur Handlung stehen und die man fast alle kennt, empfand ich als weiteren Pluspunkt, als weiteren Zugang zur beschriebenen Zeit. Ein großartiger, atmosphärisch dichter Familienroman – unbedingt lesen!



Großartige Rezension, liebe @Literaturhexle . Kommt auf die "Will ich lesen"-Liste. Hab hier ja schon so einige begeisterte Rezensionen dazu gelesen.