Rezension Rezension (5/5*) zu Mit Blick aufs Meer: Roman von Elizabeth Strout.

RuLeka

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30. Januar 2018
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Buchinformationen und Rezensionen zu Mit Blick aufs Meer: Roman von Elizabeth Strout
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Kleinstadtgeschichten

Elizabeth Strout hat für diesen Roman 2009 den renommierten Pulitzerpreis erhalten. Sie porträtiert hierin die Einwohner einer fiktiven Kleinstadt in Maine, an der Ostküste der USA.
Der Roman besteht aus insgesamt 13 Erzählungen mit wechselnden Protagonisten. Aber eine Gestalt taucht in den meisten Geschichten auf, mal als Hauptfigur, mal nur am Rande und verbindet so die einzelnen Episoden zu einem Ganzen: Olive Kitteridge, die Ehefrau, dann die Witwe des Apothekers, zuerst Mathematiklehrerin , später pensioniert.
Olive ist eine vielschichtige Figur. Sie weckt beim Leser widerstreitende Gefühle und wird auch von den verschiedenen Personen im Buch unterschiedlich wahrgenommen. Sie ist zum einen gnadenlos ehrlich, schroff und sehr direkt, blind gegenüber ihren eigenen Fehlern ( zumindest am Anfang ) , dann aber wieder unerwartet warmherzig, hilfsbereit und einfühlsam.
Ihr Mann Henry ist stets freundlich und zuvorkommend, allen gegenüber. Seine Gefühle zu einer jungen Angestellten von ihm sind anfangs eher väterlich, beschützend, später gehen sie tiefer. Aber eine Affäre bzw. eine Scheidung kommt für ihn nicht in Frage. Genauso wenig wie für Olive, die sich in einen Arbeitskollegen verliebt. Zu einem Bruch zwischen dem Ehepaar Kitteridge kommt es bei einem Überfall. Unter dieser Extremsituation sagt Olive Dinge, die besser ungesagt geblieben wären. Henry ist nicht mehr bereit, dies seiner Frau nachzusehen, vor allem, weil sie sich auch nie für irgendetwas entschuldigt. Erst im Alter, nach dem Tod ihres Mannes, erkennt Olive, wie viel Liebe Henry ihr entgegengebracht hat und wie oft sie diese unachtsam weggeschoben hat.
Das Verhältnis zum Sohn Christopher ist schwierig. Obwohl Olive immer ihre Liebe zu ihm betont, erfährt der Leser, dass sie keine besonders gute Mutter war . Erst mit 38 Jahren heiratet Christopher etwas überstürzt und zieht weg. Nur so ist es ihm möglich, sich aus der erdrückenden Beziehung zu seiner Mutter zu lösen. Die Eltern sind natürlich enttäuscht, dass er nicht in dem Haus leben möchte, das sie für ihn gebaut haben. Bei einem späteren Besuch von Olive in New York hofft man auf eine Annäherung zwischen Mutter und Sohn, aber vergeblich. Hier werden viele Vorwürfe Christophers endlich ausgesprochen.
Im letzten Kapitel wird der Leser mit Olive versöhnt. Die Schicksalsschläge haben ihre Sichtweise auf sich und ihre Mitmenschen verändert. Sie erkennt die Fehler, die sie gemacht hat und findet vielleicht noch ein letztes Glück.
Auch in den anderen Geschichten, bei denen man verschiedene Bewohner der Kleinstadt näher kennenlernt, geht es um die kleineren und größeren Tragödien des Lebens, um Trauer, um Einsamkeit, um Lebenslügen und zerbrechende Illusionen. So erzählt die Autorin von einer Barpianistin mit einem Alkoholproblem, von einer Witwe, die mit einem verheirateten Mann eine Affäre hat , von einem magersüchtigen Mädchen, einem selbstmordgefährdeten Exschüler usw.
Elizabeth Strout versteht es , unverwechselbare, lebendige Charaktere zu erschaffen. Bei aller Tragik ist der Roman doch oft auch komisch. Das alles ist klug und liebevoll erzählt, voller Weisheit und Lebenserfahrung.

 

Literaturhexle

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2. April 2017
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Bei mir ist dieser Roman ja schon ein paar Jahre her. Aus dem Gefühl fand ich ihn aber deutlich besser als die langen Abende, die wir kürzlich zusammen gelesen haben. Wie schneidet bei dir der Vergleich ab?
 

RuLeka

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30. Januar 2018
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Bei mir ist dieser Roman ja schon ein paar Jahre her. Aus dem Gefühl fand ich ihn aber deutlich besser als die langen Abende, die wir kürzlich zusammen gelesen haben. Wie schneidet bei dir der Vergleich ab?
Bei mir liegt die Lektüre auch schon einige Jahre zurück. ( Die obige Rezension ist das Ergebnis einer Leserunde in meinem Lesekreis.) Mir gefiel die Entwicklung, die Olive gemacht hat und die sich im ersten Band schon angekündigt hat. Auch im früheren Buch gab es schwächere Geschichten, allerdings gab es in „ Die langen Abende“ eine Erzählung, die mich eher abgestoßen hat. Trotzdem überwiegen die positiven Eindrücke bei Elizabeth Strouts neuem Buch: der ungeschönte Blick aufs Alter mit all seinen Schwierigkeiten, die vielen Facetten menschlichen Scheiterns und der der positive Grundton.
 
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