Rezension Rezension (5/5*) zu Milchzähne: Roman von Helene Bukowski.

Mikka Liest

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14. Februar 2015
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Hilter am Teutoburger Wald
wordpress.mikkaliest.de
Nur noch ein paar Grad…

Vor kurzem schlug das europäische Erdbeobachtungsprogramm Copernicus Alarm: weltweit betrachtet war der Juni 2019 der heißeste Juni aller Zeiten, während der Juli den bisherigen Rekord zwar nicht brechen, aber damit mithalten konnte. Betrachtet man die Fakten, lässt sich der Klimawandel kaum leugnen – obwohl nicht nur Donald Trump die Augen davor verschließt.

Warum werde ich hier so politisch? Weil ich schwitzend in meinem abgedunkelten Wohnzimmer saß und beim Lesen des Buches zunehmend beklommen dachte: oh Gott, das ist nicht mehr weit entfernt… In wenigen Jahren ist dies womöglich keine Dystopie mehr.

Helene Bukowski spricht das Wort Klimawandel nie explizit aus. Die Welt, die sie beschreibt, wird jedoch von verheerenden Temperaturen geplagt und verwüstet. Die Menschen der kleinen Gemeinschaft, in der Skalde und ihre Mutter Edith leben, schotten sich verzweifelt ab in einem Gebiet, in dem Leben gerade noch möglich ist – der Nebel, dessen Feuchtigkeit sie beschützt, nimmt ihnen aber auch den klaren Blick auf die Welt. Fremde (Klimaflüchtlinge?) sind nicht willkommen.

Brisanter und aktueller könnte das Buch in dieser Hinsicht kaum sein.

Da Edith selber einst als Fremde über den großen Fluss kam, werden sie und ihre Tochter nur misstrauisch geduldet. Als Skalde ein Kind von außerhalb findet und aufnimmt, droht das Seil des Fallbeils zu zerreißen.

Die Autorin lässt viele Leerstellen in ihrem Weltentwurf.
Wie diese Gemeinschaft sich zusammengefunden hat. Wieso der Fluss für sie eine fast heilige Grenze ist. Warum die Milchzähne und deren Verlust so wichtig sind, dass sie über Leben und Tod entscheiden können.

Es ist, wie es ist. Und das funktioniert. Die Rahmenbedingungen für eine prägnante Geschichte sind gegeben, auch wenn sie nur skizzenhaft umrissen werden. Vieles kann man lediglich erahnen – aber genau das erlaubt es dem Leser, das Bild selber zu ergänzen und die Bedeutung intuitiv und individuell zu erleben.

Von einem klassischen Spannungsbogen ist kaum zu sprechen.
Dennoch entwickelt das Buch auf seine eigene Art eine ungemeine Sogwirkung.

Die dichte Atmosphäre und die sonderbaren Rahmenbedingungen dieser Gemeinschaft haben mich mehrfach an den Film „The Village“ von M. Night Shyamalan erinnert. Obwohl die Hintergründe und auch die Auflösung der Geschichte ganz andere sind, evoziert das Buch ein vergleichbar traumartiges Gefühl, das den Leser nicht mehr loslässt.

Die Charaktere bilden ihr ganz eigenes Spannungsfeld.
Die Dörfler haben Angst vor der Außenwelt und vor Edith als deren Repräsentantin. Dass diese nie ihre Milchzähne verloren hat, macht sie noch zusätzlich zu einer Bedrohung, was nicht näher erklärt wird. Edith wiederum hat Angst vor den Dörflern und ist nach vielen Jahren der Ausgrenzung von leise schwelendem, resigniertem Hass erfüllt.

Als kleines Kind lebt Skalde in einer Grauzone: sie wird nicht ganz akzeptiert, jedoch auch nicht ganz abgelehnt. Mutter und Tochter können daher nur aufeinander vertrauen, obwohl zwischen ihnen eine unterschwellig feindselige Angst herrscht.

Ist es Liebe oder nur Notwendigkeit? So oder so ist die Bindung ungesund eng, eine Übersteigerung der typischen Dynamik zwischen Eltern und heranwachsenden Kindern. Als Skalde ihre Milchzähne verliert, wird diese Bindung endgültig von gegenseitigem Misstrauen und Hass vergiftet – denn jetzt gehört Skalde zur Gemeinschaft, und Edith steht wieder ganz alleine außerhalb.

Wenn man das Buch aufs Wesentliche reduziert, die Apokalypse quasi ganz rausnimmt, dann ist das zentrale Thema nicht der Klimawandel, sondern das Erwachsenwerden mit einer Mutter, die nicht loslässt.

Jahre später findet die inzwischen erwachsene Skalde ein rothaariges Kind – ein Wechselbalg, eine Unerwünschte. Der Inbegriff des Fremden.

Das Kind, von Skalde Meisis getauft, bleibt in meinen Augen ein Symbol. Wenn Meisis ihre Milchzähne nicht bald verliert – der einzig akzeptierte Übergang zwischen Kindheit und Erwachsensein –, muss sie gehen und damit vermutlich sterben. Für Skalde, die sich schon mit dem Verlust ihrer eigenen Milchzähne ein Stück weit aus alten Strukturen gelöst hat, wird dies zum auslösenden Moment.

Sie sieht auf einmal alles mit ganz neuem, wachem Blick: die von ihrer Mutter eingeforderten Restriktionen, aber auch die absurden Regeln einer Gesellschaft, die aus Furcht vor der Außenwelt die innere Verrottung ignoriert.

Die Sprache ist so knapp wie evokativ.

Ohne jemals rührselig zu werden, ruft sie mit ausdrucksstarken Bildern eine Vielzahl an Emotionen hervor und spielt dabei mit den Erwartungen des Lesers. Was gerade noch ländlich-idyllisch wirkt, kann jederzeit umschlagen in ein Gefühl fast apokalyptischer Bedrohung – gleichsam kann Aggressivität auf einmal wirken wie ein eigentümlicher Ausdruck von Liebe.

„Das letzte Licht ließ die Stämme der Kiefern rot aufleuchten. Meisis lief voraus. Unter meinen Sohlen knisterte das Gras, als würde es sich gleich entzünden. Bevor ich in den Wald trat, schaute ich noch einmal zurück. Die Sonne versank hinter dem Haus. Der Himmel sah aus, als ob er brannte.“
(Zitat)

FAZIT

Skalde und ihre Mutter Edith sind widerwillig geduldete Außenseiter in einer kleinen Gemeinschaft, die versucht, in einer Welt nach dem Klimawandel irgendwie zu überleben. Niemand darf den Fluss überqueren, der als letzte Grenze zu einer bedrohlichen Außenwelt betrachtet wird – die Brücke haben sie schon lange gesprengt.

Dann findet Skalde ein kleines Mädchen, das von außerhalb kommt, und das wird zu ihrem persönlichen Schlüsselmoment. Sie muss nicht nur die Gemeinschaft und ihre eigene Rolle darin hinterfragen, sondern sich auch von der Hassliebe zu ihrer einengenden Mutter lösen.

Hier wird fast nichts erklärt. Alles wird angedeutet, alles muss man zwischen den Zeilen lesen. Die Geschichte hat genug Symbolik, um einen Deutschlehrer vor Glück weinen zu lassen. Und in meinen Augen funktioniert das großartig, wenn man sich darauf einlässt.


 

kingofmusic

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30. Oktober 2018
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So unterschiedlich ist die Wahrnehmung eines Buches :D. Für mich war es der Flop des Jahres.
Aber offensichtlich hat das Buch seine Daseinsberechtigung - immerhin erscheint es demnächst in einer Ausgabe der Büchergilde Gutenberg. :cool:
 

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