Rezension Rezension (5/5*) zu Milchmann: Roman von Anna Burns.

ulrikerabe

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14. August 2017
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Wien
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where the streets have no name

Eine namenlose junge Frau in einer namenlosen Stadt, wo selbst die Straßen keine Namen haben. Dort lebt die Erzählerin „Mittelschwester“, mit ihrer Mutter, den Kleinen Schwestern. Der Vater ist verstorben, die großen Schwestern verheiratet. Die Großen Brüder irgendwo. Es ist eine ganz eigene Welt, in der sie lebt, in einer eigentümlichen, gefährlichen Zeit. Bis eines Tages ein Mann, wesentlich älter als sie, der Milchmann, in ihr Leben tritt, sie vereinnahmen will, sie beobachtet, verfolgt, gegen ihren Willen.
Es ist wohl Belfast in den 1970ern, während des Nordirlandkonfliktes, von dem die Erzählerin berichtet, Jahre später. Als sie Worte und Begriffe findet, für das was damals passiert ist und für die es damals noch keine Begriffe gab. Belfast „where the streets have no name“ haben auch die handelnden Personen keine Namen. Es ist gefährlich, zu wissen in welcher Straße man wohnt, zu leicht lässt sich feststellen, welchem Glauben, welchem Teil der Bevölkerung man angehört. Auch Namen sind gefährlich, lässt sich doch daran erkennen, auf welcher Seite der Straße, welcher Seite der See man lebt.
„Der Tag, an dem Irgendwer McIrgendwas mir eine Waffe auf die Brust setzte, mich ein Flittchen nannte und drohte, mich zu erschießen, war auch der Tag, an dem der Milchmann starb.“
So beginnt der Roman von Anna Burns. Gleich mit diesem ersten Satz, weiß man, dass der Milchmann nicht überlebt, aber die Bedrohung für die Erzählerin damit nicht endet.
Die Erzählerin will sich raushalten aus den Geschehnissen, selbst ihre Beziehung ist eine Vielleicht-Beziehung zu einem Vielleicht-Freund. Sie ist das „gehende Mädchen“ immer mit einem Buch in der Hand. Ihre Lektüre stammt aus früheren Zeiten, bloß nichts Gegenwärtiges. Sie will sich entziehen und merkt nicht, dass sie gerade deswegen Aufmerksamkeit erregt. Der Milchmann erwählt sie als Objekt seiner Begehrlichkeit. Sie kann nichts dagegen tun. Doch wer ist dieser ominöse Milchmann, um den sich so viele Gerüchte ranken. Und der Ursache dafür ist, dass die Erzählerin unter ein Licht gestellt wird, in dem sie nicht gesehen werden will. Ist er ein Staatsverweigerer, ein Terrorist, ein Spion, von der anderen Seite der See gar?
Anna Burns lässt diese eine Frau erzählen von einer Welt die geprägt ist von echten und geschürten Ängsten, von einer komplett umgedrehten Welt. Lässt sie vom Hundertsten ins Tausende kommen, lässt sie vom Krieg erzählen der nicht als „troubles“ ist, gibt ihr eine spitze Zunge und einen bitterbösen Sinn für Humor, lässt sie um tote Verwandte und Freunde trauern und gibt ihr den Mut, nicht als alles gegeben hinzunehmen. „Der Himmel ist blau“. So behaupten alle, die jetzt und gerade jetzt aus dem Fenster schauen. Vielleicht mag er noch schwarz sein in der Nacht und grau bei Regen. Doch egal was über die Generationen gelehrt wurde. Der Himmel darf bunt sein. Auch in der Welt unserer Erzählerin.


 

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