Rezension (5/5*) zu Melnitz von Charles Lewinsky

Emswashed

Bekanntes Mitglied
9. Mai 2020
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Einfach großartig!

Ein 900-Seiten-Familien-Epos-Wälzer schreckt schon ein wenig ab, aber mit Melnitz war bald jedes Zeitgefühl im Hier und Jetzt verschwunden.

Ich begab mich ins Jahr 1871 und besuchte die schweizer Familie Meijer. Salomon und Golde geht es recht gut, so dass sie neben ihrer eigenen Tochter Mimi auch noch die Ziehtochter Chanele in ihrem Haushalt aufnehmen können. Noch leben und arbeiten sie in Endingen, einem kleinen Dorf und neben Lengnau, die einzigen Orte, an denen Juden seit der Pest im 14. Jahrhundert in der Schweiz siedeln durften. 1866 bekamen sie die Bürgerrechte und damit auch die Niederlassungsfreiheit zugesprochen, doch es dauerte noch ein Weilchen, bis es auch in den Köpfen der Dorfgemeinschaften ankam.

Als eines Nachts Janki Meijer, ein entfernter Verwandter, an Salomons Tür klopft und um Aufnahme bittet, beginnt eine turbulente Zeit für die Familie. Natürlich fühlt man sich für seine Mischpoche verantwortlich und so wird nach einigem Hin und Her Hochzeit gefeiert, Auskommen gesichert und Kinder in die Welt gesetzt. Atemlos sitzt man am Abendbrottisch und schaut zu, wie die Verwandtschaft für die Verfehlungen der Jugend Lösungen findet, wie mit Tradition und Witz das Beste aus dem Leben herausgeholt, und mit Argwohn auf die politischen Entwicklungen in Frankreich und Deutschland geschaut wird.

Die ersten dunklen Wolken ziehen auf, als 1893 in der Schweiz eine Volksinitiative zum Verbot des Schächtens angenommen wird. Die antijüdische Stimmung im Land wird durch die französiche Dreyfuss-Affaire ein Jahr später weiter angeheizt. Die Versuche der Familie Meijer, weiterhin gute Beziehungen zur Geschäftswelt zu unterhalten, namentlich Francois Meijer (Sohn von Chanele), der sich sogar zusammen mit seinem Sohn Alfred taufen lässt, können weitere Repressalien nicht verhindern. Vorläufiger Höhpunkt der Fehlentscheidungen bleibt Alfred Meijers Einzug in den 1. Weltkrieg.

Aber auch danach ist kein Hass verpufft, keine Genugtuung erreicht. Europa ist in Aufruhr, Flüchtlinge sind allenthalben unterwegs. Die Situation, vor allem in Deutschland bleibt für die Juden fatal. Das bekommen auch die Meijers zu spüren und versuchen zu helfen, wo es möglich scheint.

Nun, wir wissen alle, welch schlimme Zeit dann anbrach, die boshafte Fratze des Holocaust schaut schon durch den Vorhang auf die Bühne. Lewinsky hat aber keinen weiteren Schreckensroman über die Vernichtung der Juden im Dritten Reich geschrieben, sondern vielmehr seine Familie Meijer an einem Nebenschauplatz, der neutralen Schweiz, ein typisches jüdisches Leben führen lassen, gezeichnet von Tradition und dem Bemühen, sich anzupassen, nicht aufzufallen, sich zu integrieren. Dabei zeigt er sehr schön, dass Juden eben auch nur Menschen sind und ihre Fehler haben, aber auch Witz und Geschick. Nur der tote Onkel Melnitz mischt sich in die Gespräche der Familie und mahnt vor dem Unverständnis der Welt gegen das jüdische Volk.

Lewinsky beginnt seine Geschichte voller Witz und Poesie. Seine Leichtigkeit verführt, mutet wie eine süffige Soap-Opera, voller Liebesdramen, pikanten Lebensentwürfen und geschäftlicher Raffinesse an. Mit seinen leisen Untertönen aber zieht er den Leser nach und nach auf die dunkle Seite Europas im 19. und 20. Jahrhundert und nur sein Melnitz darf aussprechen, was alle wissen, aber zu verdrängen versuchen.

Schon mit "Der Halbbart" hat mich Lewinsky von seiner Erzählkunst überzeugt, aber mit Melnitz hat er seiner Profession eindeutig die Krone aufgesetzt. Er weiß seine Protagonisten ins Licht zu setzen, verleiht jedem einzelnen Tiefe, verliert im Laufe der Erzählung keine einzige aus den Augen und bettet sie behutsam und überzeugend in den Lauf der Geschichte. Einfach großartig!

von: Macmillan, Gilly
von: Matthias Boll
von: Hwang Sok-Yong
 

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