Rezension (5/5*) zu Melnitz von Charles Lewinsky

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.383
21.201
49
Brandenburg
Leider konnten wir zu diesem Buch keine Daten ermitteln.
Der Walfisch taucht. Früher oder später.

Kurzmeinung: Ohne Frage eine Meisterleistung.


In der Schweiz lebt die jüdische Gemeinde geschützt, aber doch auch beengt, denn für die Juden gilt ein Sonderstatus, der ihre Wohnorte auf die beiden Dörfer Endingen und Lengnau im Aargau begrenzt. Deshalb ist dort das Ballungsgebiet jüdischen Lebens auch dann noch als 1866 das Gleichberechtigungsgesetz Freizügigkeit und Gleichberechtigung zusichert.

Charles Lewinsky lässt die Geschichte der jüdischen Familie Meijer 1871 genau in diesen beiden Dörfern einsetzen, also schon fünf Jahre nach dem Gleichberechtigungsgesetz. Gleichberechtigung als schweizerischer Staatsbürger de jure, nicht de facto. Das wird im Gange der Familiengeschichte immer wieder deutlich. Papier ist geduldig und Paragraphen kann man drehen und wenden.

In fünf Zeitabschnitten 1871, 1893, 1913, 1937, 1945 leben und wirken, lieben und sterben die tüchtigen Meijers. Sie sind im Viehhandel und in der Schlachterei, im Fleischverkauf tätig, sie handeln schließlich mit Stoffen, dann mit Lebensmitteln und bauen endlich ein richtiges Warenhaus auf. Sie leben in strengem Brauchtum mit für die christliche Umgebung unverständlichen Riten, die ihre eigene Schönheit haben und Vertrautheit und Geborgenheit vermitteln, aber auch einengen und individuelle Freiheit verhindern; generationenlang versuchen die Meijers vorwärtszukommen und aufzusteigen und es gelingt auch. Aber da sind immer die Vorurteile der anderen. Da sind immer wieder Nadelstiche, Hänseleien und handfeste Nachteile, die die jüdische Bevölkerung erlebt. Anfeindungen. Sie sind und bleiben die Fremden, die Anderen.

Wie alle anderen Schweizer leben die jüdischen Frauen in einer ausgeprägt patriarchalischen Struktur zu jener Zeit. Und das Judentum verstärkt ihre untergeordnete Rolle noch einmal um ein Vielfaches. Ihre kleinen Freiheiten müssen sie sich erkämpfen. Die Meijerschen Frauen setzen sich aber jeweils gemäß den herrschenden Verhältnissen durch. Sie machen das maximal Mögliche aus minimalen Chancen. Dabei ist die Wahl ihrer Mittel unterschiedlich. Mimi kriegt die Männer mit Manipulation, mit Schmollen und ihrer Schönheit rum, das Chanele ist eine pragmatische Persönlichkeit. Von Generation zu Generation wird die Emanzipation leichter.

Wenn das alles wäre … .

Die Juden kämpfen mit der Geschichte. Es gibt eine Legende, die mündlich weitergegeben wird: Auf einem Riesenfisch mitten im Ozean, so wird erzählt, befindet sich ein Grüppchen Menschen, die die graue Fläche des Walfischrückens für Festland halten und anfangen, es sich gemütlich zu machen, man macht ein Feuerchen, spielt Familie, richtet sich ein. Doch der Fisch bewegt sich irgendwann, taucht ab in die Unergründlichkeit des tiefen Ozeans. Und reißt alle mit! Genauso ist jüdisches Leben, sagt Melnitz, der ewige Mahner. Melnitz gibt es gar nicht, er ist ein Geist, der ewige jüdische Weltgeist, der Mahner. Mach es dir nur nie zu gemütlich, denn eines Tages schwimmt der Wal wieder los, schlägt mit seiner Schwanzflosse und taucht ab. Das ist sein Wesen.

1914 schwimmt der Fisch los. Und 1933. Und immer wieder mal dazwischen.

Die Meijers bleiben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zum Beispiel bei einer dramatischen Rettungsaktion in Galizien und einem tragischen Tod in Frankreich, mit den Lesern in der Schweiz. Melnitz sagt dazu lakonisch, er hätte ihnen, den in der Schweiz gebliebenen Juden nach 1945 neue Geschichten mitgebracht: „Neue Geschichten hatte er mitgebracht, sechs Millionen neue Geschichten, ein dickes Buch, aus dem man eine Generation lang vorlesen könnte, ohne sich ein einziges Mal zu wiederholen. Geschichten, die nicht zu glauben waren, schon gar nicht hier in der Schweiz, wo man all die Jahre wie auf einer Insel gelebt hatte, auf trockenem Boden mitten in der Überschwemmung.“

Der Kommentar:
Der historische Kontext ist meist dezent. Aber er ist da. Manchmal sogar sehr informativ. Die Entstehung Israels wird angerissen. Es geht um Volksentscheide in der Schweiz, die Schächtung betreffend; es geht um Auswanderung, es geht ums Rabbinertum, es geht um Konversion. In der Ferne immer drohend, unausgesprochen, die rauchenden Schlote der Konzentrations –und der Vernichtungslager.

Der historische Kontext und die Thematisierung des Antisemitismus selbst in der friedlichen Schweiz, ganz zu schweigen vom Rest der Welt, hebt den Familienroman über die Meijers über all die anderen, ebenfalls spannenden Familiengeschichten anderer Autoren hinaus. Der schweizerische Blick erspart dem Leser vieles, aber nicht alles. Die schweizer Perspektive zeigt, dass Antisemitismus in den verborgensten Ritzen sitzt und die schweizerische Neutralität genau solche Löcher hat wie ihr berühmter Käse. Auch die besten Gesetze scheitern an der Boshaftigkeit der Leute.

Sehr fein heraus gearbeitet hat Charles Lewinsky die jeweilige Konfliktsituation der für das Wohlergehen der Sippe verantwortlichen Männer. Wie weit können sie überhaupt noch persönlich für die Familie da sein, wenn der Beruf ihnen alles abverlangt. Was ist wirklich wichtig im Leben. Da sind die Ansprüche der Synagoge, die Ansprüche Gottes und was sagen die Leute? Wem kann man, wem soll man, wem muss man wie gerecht werden? Es werden gute und schlechte Entscheidungen getroffen, je nach Weltlage, je nach Charakter und Wesensart.

FAZIT: Ein ausgezeichneter, wenngleich fast zu weit ausgezogener Roman, der fein beschreibt, lakonisch aufzeigt, was aufzuzeigen ist, in dem besondere Charaktere wohnen und der wieder nicht von denen gelesen werden wird, die ihn lesen sollten. Möge der Antisemitismus aussterben! Bald. Gleich. Jetzt!

Verlag: Diogenes, Neuauflage 2021
Kategorie: Historischer Roman

 
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Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.250
49.195
49
Deine Rezension ist ebenso ein kleines Meisterwerk wie der Roman ein großes ist! Ich freue mich, dass der fünfte Stern in dir gewachsen ist. Ja, man muss vergleichen und für das Genre des Familienromans hat Lewinsky hier Großes geleistet, das Alltägliche mit dem Historischen verbunden und famos ausformuliert.
Eine Rezension, die Werk und Schöpfer sehr gerecht wird. Ich bin begeistert:)
 

RuLeka

Bekanntes Mitglied
30. Januar 2018
6.408
23.981
49
66
Was für eine großartige Rezension, alle Aspekte beleuchtend.
Ich stimme Dir in allem zu, nur nicht was die Länge betrifft. Für mich war kein Satz zu viel.
 
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