Rezension (5/5*) zu Meine Mutter sagt: Roman von Stine Pilgaard

dracoma

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16. September 2022
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Das Leben ändert sich - kein Grund für Selbstmitleid!

„Meine Mutter findet, da ich jetzt Urlaub habe, sollte ich in ihr Sommerhaus kommen.“So beginnt das erste Kapitel, und dieses erste Kapitel zeigt schon das familiäre Miteinander der Ich-Erzählerin. Da ist eine Mutter, die die Tochter mit vielen unerbetenen Ratschlägen überhäuft und die sich bemüht, das Studium und allgemein das Leben ihrer Tochter wieder ins Gleis zu bringen. Die Ich-Erzählerin begegnet uns nämlich am Anfang als tief verletzte, entwurzelte junge Frau: ihre Lebensgefährtin hat sie vor die Tür gesetzt. Sie findet Unterschlupf bei ihrem Vater, einem Pfarrer, der für Pink Floyd schwärmt und im Unterschied zur Mutter von Belehrungen absieht. Im Gegenteil: die Ich-Erzählerin freundet sich mit seiner neuen Frau an und entwirft mit ihr spielerische Zukunftspläne. Alle Figuren dieses kleinen Romans werden uns als teilweise schrullige, aber liebenswerte und lebensechte Typen vorgestellt, keine der Figuren wird bewertet, und dieser freundliche Blick der Autorin auf ihre Mitmenschen macht die Lektüre zu einem Vergnügen.

Das Buch ist originell aufgebaut. Auf wenige kurze erzählende Kapitel folgt ein sog. Seepferdchen-Monolog. Wieso Seepferdchen? Ein Teil des Gehirns ähnelt einem Seepferdchen, lat. Hippocampus, und dieser Hippocampus überführt die Erinnerungen aus dem Kurzzeit- in das Langzeitgedächtnis. In diesen Seepferdchen-Monologen geht es daher um die langfristigen Erinnerungen der Protagonistin. Sie reihen sich oft assoziativ in die Erzählung ein und öffnen dem Leser das Innere der Ich-Erzählerin: sprachlich wunderschöne Monologe, in denen man versinken kann.

Überhaupt ist es die Sprache, die den Roman zu einem besonderen Lesevergnügen macht. Schon im 1. Kapitel zeigt sich der besondere Sprachwitz, wenn es z. B. darum geht, ob eine Krabbe ein Schalentier oder ein Kriechtier ist; kriecht die Krabbe oder schalt sie? Stine Pilgaard spielt in einer unglaublich frischen Weise mit der Sprache. und so ist es auch die Sprache, mit der sie alltägliche Situationen gleichsam seziert, und es ist die Sprache, die die Kommunikation zwischen den Figuren letztlich gelingen lässt. Wie tröstlich! Gleichzeitig gelingt der Autorin damit auch der Spagat zu tiefernsten Themen wie der Vereinzelung des Menschen und der Angst vor dem Allein-Sein – und schließlich der überbordenden Freude über eine neue Liebe.
Ein wunderbares Buch!





 
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