Rezension (5/5*) zu Mein Abschied von Deutschland von Matthias Politycki

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.624
21.915
49
Brandenburg
Buchinformationen und Rezensionen zu Mein Abschied von Deutschland von Matthias Politycki
Kaufen >
Zur Sache, Schätzchen! Eine Auseinandersetzung mit dem Wokismus.

Kurzmeinung: Muss man gelesen haben.

Matthias Politycki findet es gar nicht gut, was zur Zeit mit der deutschen Sprache passiert und daher hat er sich nach Österreich abgesetzt. Ich verstehe ihn. Politycki spricht Klartext. Er fühlt sich inmitten der deutschen Sprachpolizei nicht mehr wohl.

Nichts weniger als eine Kulturrevolution nennt er den Versuch einer lautstarken Minderheit, der deutschen Sprache ihre Schönheit zu entreißen, ihre Klarheit zu zerstören und die Strukturen eines Sachtextes mit gegendertem Text so aufzublähen, dass das Erfassen des intendierten gedanklichen Zusammenhangs erschwert, wenn nicht gar unmöglich wird. Selbstverständlich aus den lautersten Motiven heraus. (Das macht es überhaupt nicht besser, eher schlechter).

Als ich unlängst den Titel „Die Erwählten, wie der neue Antirassismus die Gesellschaft spaltet“ von John McWhorter vorstellte, das ich in der deutschen Übersetzung gelesen hatte, war ich bass erstaunt zu lesen, dass sich die Übersetzerin angemaßt hätte (möglicherweise auf Anweisung des Verlags?), einen englischen nicht gegenderten Text, der sich ausdrücklich gegen das Gendern richtet, bei der Übersetzung ins Deutsche nachzubessern, also zu gendern und politisch korrekt (in ihrem Sinne) die Worte Schwarze Menschen und weiße Menschen unterschiedlich groß / bzw. klein zu schreiben, etc. etc. was im Originaltext jedoch nicht so gestanden hat. Was für eine Übergriffigkeit! Wenn das wahr wäre!

Wer bestimmt eigentlich über einen Sprachenwandel, fragt sich Politycki.

Die Mehrheit. In einer Demokratie. Und die zuständige Institution „Der Rat für deutsche Rechtschreibung“. „Wer … Demokrat ist, holt sich für sein Handeln, sofern es die Interessen der Allgemeinheit berührt, ein Mandat, am besten auf Basis einer gesellschaftlichen Debatte, die möglichst viele einbezieht.“

So aber läuft es nicht. Eine breite Debatte findet nicht statt und wo sich Andersdenkende positionieren, werden sie mit Hilfe der sozialen Medien ausgegrenzt und ausgebuht. Eine Streitkultur, ein Austausch über die Sache aufgrund von Argumenten, ist das nicht.

Politicky schreibt:

„Direkte Auseinandersetzungen mit Wokisten …verlaufen in der Regel wie Dialoge des absurden Theaters. Konfrontiert man sie mit Fakten, streiten sie diese rundheraus ab, präsentieren ihre alternativen Fakten. Im Namen der Diversität, stellen sie Meinungen, die im Vergleich zu ihren tatsächlich divers ausfallen, grundsätzlich in Frage und diskreditieren sie mit der drolligen Standardreplik, man habe das Problem offensichtlich nicht verstanden. Oder mit der Standarddiagnose, man sei „strukturell vorbelastet“ qua Hautfarbe, Geschlecht, Alter, ängstige sich offenbar vor Neuerungen; ärgere sich darüber, dass man Privilegien preisgeben oder Sprachroutinen aufgeben müsse; man sei „halt noch nicht so weit.“ Damit verlagern sie die Auseinandersetzung von der sachlichen auf die emotionale Ebene, wo man Gegenargumente als bloßen Reflex abtun kann. Oder sogar als Symptom einer psychischen Störung, als Transphobie, Islamophobie, Xenophobie, Misogynie.“

Die Auseinandersetzung um die deutsche Sprache ist längst ein ideologisch geprägter Machtkampf geworden. „Wer Sprache vorschreibt, will damit auch die entsprechende Weltanschauung durchsetzen und die Menschen in Unmündigkeit halten.“ (Wenn man z.B. gegen die Worte "Vater" und "Mutter" vorgeht und sie zwingend gegen das blutleere "Elternteile" ersetzen möchte, dann will man das gängige Familienbild zersetzen).

Um unsere Streitkultur ist es schlecht bestellt, meint Politycki, denn man kann nicht mehr offen oder gar kontrovers miteinander reden und diskutieren und um das Richtige oder Angemessene ringen, wenn man in diesem Diskurs dafür angepöbelt oder gemaßregelt wird, wie man schreibt (und redet) und missliebige Begriffe auf dem Index stehen. „Belehrungsimpertinenz von links wie Pöbelei von rechts“ nennt es Politycki und meint das seien „zwei Seiten derselben Bankrotterklärung“ deutscher Streitkultur.

Politycki beklagt gesellschaftlich sowohl die horizontale Zensur, die rückwirkende Zensur (Geschichtsbereinigung: Klassiker müssen „bereinigt“ werden) wie auch die vorauseilende Zensur (bevor mir einer an den Karren fährt, passe ich mich halt an) und empfiehlt Stellung zu beziehen: „Demgegenüber steht eine schweigende Mehrheit, die eigentlich nicht schweigen müsste. Welche Folgen Opportunismus haben kann, weiß man als Deutscher. Schweigen aus Bequemlichkeit sollte hierzulande keine Option mehr sein.“

Außerdem warnt er: „Eine kulturelle Revolution ist kein Spaß, und nichts Geringeres erleben wir derzeit: Eine vergleichsweise kleine Gruppe, die sich als Elite versteht, ist angetreten, uns im Zeichen der Wokeness das Sprechen, das Denken und den Umgang miteinander neu beizubringen und, um ihr moralisierendes Narrativ durchzusetzen, auch unsere Vergangenheit neu zu bewerten beziehungsweise gleich zu übermalen, vom Sockel zu stürzen oder umzuformulieren. Wokeness, das ist Ausweitung der Political Correctness auf alle Lebensbereiche.“

Der Kommentar:
Auch die RAF wollte die Dekonstruktion der Gesellschaft. Wenn ich „Dekonstruktion der Sprache“ höre, ein erklärtes Ziel der Wokisten, läuft es mir eiskalt den Rücken herunter. 1984 redet von „Neusprech“. Auch diese Assoziation ist beunruhigend. Ich hoffe sehr, dass die Verlage dieses Landes den Mut haben werden, sich dem deutschen Neusprech zu verweigern oder, soweit sie nachgegeben haben, zurückzurudern. Auch alle anderen öffentlichen Medien haben eine große Verantwortung, deren sie sich keineswegs bewusst sind. Sie beteiligen sich fröhlich an der Demontage der deutschen Sprache.

Ich gebe eine Leseempfehlung für Polityckis berechtigten Aufschrei.

Kategorie: Sachbuch.
Verlag: Hoffmann & Kampe, 2022

 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.450
49.904
49
Eine vergleichsweise kleine Gruppe, die sich als Elite versteht, ist angetreten, uns im Zeichen der Wokeness das Sprechen, das Denken und den Umgang miteinander neu beizubringen
Harter Tobak. Aber klar, in dem Moment, in dem man Klassiker umschreibt, findet eine Korrektur der Vergangenheit statt. Ich bin mittlerweile nicht mehr sicher, ob es sich nur um eine Minderheit handelt, ob es nicht Frage der Generation ist.
Die emotionale Pöbelei und das In-die Ecke-Stellen Andersdenkender in den sozialen Medien ist allerdings offensichtlich. Allerdings eignen sie sich auch denkbar schlecht für einen sach- und Argumente orientierten Austausch.
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.622
16.636
49
Rhönrand bei Fulda
In "Gute Nachbarn", das ich gerade gelesen habe, erklärt bzw. rechtfertigt sich die Autorin Therese Anne Fowler in einem Vorwort - wohlgemerkt nicht in einem Nachwort, man soll es vorher lesen! - dafür, dass sie als Weiße über ein Rassismusproblem schreibt. Ich kann nicht leugnen, dass mich allein das (also dass sie ein solches Vorwort für nötig hielt) schon ein wenig gegen das Buch eingenommen hat, obwohl sie vermutlich gute Gründe hat, sich zu rechtfertigen.
Als in einer ländlichen Blase lebende Mittsechzigerin habe ich keine Ahnung, wie weit das Gendern in der Bevölkerung unterstützt wird. Ich kenne keinen Menschen, der es im Alltag macht. Ist es nicht so, dass auch die Rechtschreibreform von den Literaturverlagen stillschweigend einfach ignoriert wurde, abgesehen vielleicht von der Schreibweise des Doppel-S?
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka und Wandablue

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.624
21.915
49
Brandenburg
Diese obige Vorgehensweise der Wokisten, dass sie es quasi jedem verbieten, über etwas zu schreiben/reden, was man nicht selbst ist oder erlebt hat - und dass sie Verstöße sanktionieren, das macht das Ganze so abartig. Wie immer ist ein Körnchen Wahrheit enthalten, aber Wokisten schütten das Kind mit dem Bade aus. Man hat das früher "Authentizität" genannt und ist damit auch nicht schlechter gefahren.
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka

Wandablue

Bekanntes Mitglied
18. September 2019
9.624
21.915
49
Brandenburg
In "unserem" Falle gehen die Verlage/Medien aber leider mit, obwohl sie es nicht müssten und bringen damit das Ganze erst so recht in Schwung. Politicki schreibt, dass es in den Verlagen extra Angestellte dafür gibt, die einen Text auf die neue politial correctnes prüfen und andere, - unverbindlichere ("ungefährlichere") Begriffe vorschlagen. Sie entkernen damit die Sprache. Und wer nicht mit macht, dessen Manuskripte werden nicht angenommen.
 
  • Like
Reaktionen: RuLeka

Die Häsin

Bekanntes Mitglied
11. Dezember 2019
4.622
16.636
49
Rhönrand bei Fulda
Diese obige Vorgehensweise der Wokisten, dass sie es quasi jedem verbieten, über etwas zu schreiben/reden, was man nicht selbst ist oder erlebt hat - und dass sie Verstöße sanktionieren, das macht das Ganze so abartig. Wie immer ist ein Körnchen Wahrheit enthalten, aber Wokisten schütten das Kind mit dem Bade aus. Man hat das früher "Authentizität" genannt und ist damit auch nicht schlechter gefahren.
Ich habe vor vielen Jahren, lange vor dem jetzigen Gender-Trend, mal an einer Diskussion teilgenommen, in der es um die Frage ging, ob Männer einfühlsam die Frauenperspektive darstellen können und umgekehrt. Ich verweise in einem solchen Zusammenhang immer gern auf den Roman "Ditte Menschenkind" von Martin Andersen Nexö. Das Buch erzählt das komplette Leben von Ditte, einem Arbeiterkind aus elendesten Verhältnissen. Nexö schildert eingehend die Nöte der Pubertät, das Staunen über die körperlichen Veränderungen, die erste Liebe. Ich habe über diese Passagen immer wieder gestaunt und bin überzeugt, er kann das deshalb mit so unglaublicher Einfühlsamkeit beschreiben, gerade weil er ein Mann ist. Er sieht das was er beschreibt, von außen; er ist nicht Ditte, und das macht sein Erzählen so eindrücklich.
Damit will ich keineswegs sagen, dass Weiße Rassismusprobleme besser beschreiben können als farbige Autoren - da sei Gott vor. Ich finde diese ganze Diskussion nur immer viel zu simpel und grob. Es kommt auf die Fähigkeit zum guten Erzählen an. Die ist zum Glück unabhängig von der Hautfarbe.
 

Literaturhexle

Moderator
Teammitglied
2. April 2017
19.450
49.904
49
Ich finde diese ganze Diskussion nur immer viel zu simpel und grob. Es kommt auf die Fähigkeit zum guten Erzählen an. Die ist zum Glück unabhängig von der Hautfarbe.
Genau das! Wie eng würden wir die Literaturszene fassen, wenn jeder nur noch darüber schreiben dürfte, was er selbst aus eigenem Erleben beurteilen kann?!

Die spinnen, die Römer! Oder die "Wokisten". Sind das die, die uns aufwecken sollen? Die Jünger der "wokeness"? Brauche ich nicht, ich bin schon wach;)