Rezension (5/5*) zu Mai: Roman von Geetanjali Shree

Renie

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19. Mai 2014
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Buchinformationen und Rezensionen zu Mai: Roman von Geetanjali Shree
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Der Wille einer Frau

„Mai“, ein Roman der indischen Autorin Geetanjali Shree, erzählt die Geschichte einer indischen Familie mit drei Generationen, die irgendwo im Norden Indiens lebt. Dabei konzentriert sich die Handlung auf die Zeit zwischen den 60er und 80er Jahren.
Wir erleben, wie Tradition und Moderne unter einem Dach vereint sind. Während die erste und zweite Generation noch den strengen traditionellen Regeln eines Zusammenlebens unterworfen ist, löst sich die jüngste Generation davon.
In dem Haus leben die Großeltern der Ich-Erzählerin Sunaina und beherrschen zu Lebzeiten den Alltag in diesem Haus. Maßgeblich ist dabei die Dominanz des Großvaters, der mit strenger Hand die Familie regiert. In der Rangordnung folgt seine Frau, die nicht ertragen kann, dass sie ihren einzigen Sohn an die Schwiegertochter „Mai“ abgeben musste, wobei keine Frau für ihren „Prinzen“ gut genug gewesen wäre. Mai (= Mutter) steht in der Rangordnung ganz am Ende, trotzdem das Wohlbefinden aller Familienmitglieder ausschließlich von ihren Fähigkeiten abhängt. Sie ist für das Funktionieren des Haushalts verantwortlich, für das leibliche Wohl der Familienmitglieder sowie für die Erziehung ihrer beiden Kinder, Sunaina und ihrem Bruder, die zusammenhalten wie Pech und Schwefel.
Trotzdem Mai enorm wichtig für die Familie ist, findet sie als Mensch nicht statt. Denn Meinungen und Bedürfnisse werden ihr nicht zugestanden. Die ihr zugedachte Rolle besteht ausschließlich darin, für andere da zu sein. Damit verkörpert sie eine traditionelle Frauenrolle in Indien, die bisher über die Generationen fortgeführt wurde. Eine Tochter wird zu einer Schwiegertochter, die zum Wohle aller und insbesondere dem der Schwiegermutter sklavisch zu dienen hat. Wenn Schwiegertochter Glück hatte, bekommt sie einen Sohn, durch dessen Heirat sie selbst irgendwann in die komfortable Rolle einer Schwiegermutter schlüpfen kann. In der Familie dieses Romans gelingt es endlich Mais Tochter, von diesem vorbestimmten Weg abzuweichen, woran Mai keinen geringen Anteil hat. Sunaina und ihr Bruder verbringen also ihre Kindheit in dieser patriarchalischen Familie und erleben ihre Mutter in ihrer untergeordneten Rolle.
Schule und Bildung öffnen ihnen schließlich das Tor zu einer anderen Welt. Ihre Ausbildung führt das Geschwisterpaar nach Europa, wo sie erfahren werden, dass das Leben unerschöpfliche Möglichkeiten bereithält.
Von klein auf reifte bei dem Geschwisterpaar die Idee, ihre Mutter von den Konventionen, denen sie unterworfen ist, zu befreien. An diesem Plan halten sie über Jahre fest. Doch der Plan wird an der Mutter selbst scheitern, die sich scheinbar mit ihrem Leben arrangiert hat und nicht gerettet werden möchte.
Nicht nur die Kinder haben Schwierigkeiten, dieses Verhalten zu akzeptieren. Auch als Leserin tut man sich schwer, Mais scheinbar fehlendes Rückgrat und Resignation nachzuvollziehen.
Die Handlung bietet zunächst auch nur wenig Hilfestellung, sich in die Figur der Mai hineinzuversetzen, da die Geschichte ausschließlich aus Sicht der Tochter erzählt wird. Und so, wie die Tochter lernt, ihre Mutter über die Jahre zu verstehen, wird auch dem Leser langsam bewusst, was Mai sich für ihr Leben vorstellt.
Die Kinder wollen nur das Beste für ihre Mutter, ein Vorsatz, der aus Liebe und Verantwortung entsteht. Doch gleichzeitig beinhaltet diese Absicht ein hohes Maß an Bevormundung und Anmaßung, insbesondere, wenn dieses sogenannte Beste nicht deckungsgleich ist, mit dem Besten, das die betroffene Person für sich selbst definiert.
Der Roman „Mai" erzählt die Geschichte einer indischen Familie und beleuchtet gleichzeitig die Frauenrolle innerhalb dieser Kultur, von der Tradition bis hin zur Moderne. Doch gleichzeitig ist die Geschichte als kulturell übergreifend zu lesen, da der Konflikt sowie ein häufiges Unverständnis zwischen den Generationen überall zu finden sind.
Der Roman vermittelt eine unglaubliche Ruhe und Entspanntheit, trotz aller Empörung über das traditionelle indische Frauenbild, und trotz eines Romananfangs, der unter einer Abfolge von Situationen, Gedanken und Erinnerungen, die chronologisch unsortiert erzählt werden, leidet. Doch nach diesen anfänglichen Verwirbelungen beruhigt sich der Lesefluss wieder, wozu die Sprache der indischen Autorin beiträgt. Der fast schon sanfte Erzählstil von Geetanjali Shree wird von eindringlichen Metaphern durchzogen, die wundervollen und detaillierten Beschreibungen der Handlungsorte haben einen großen Anteil an der ruhigen Stimmung, von der man sich gern anstecken lässt.
Leseempfehlung!

©Renie