»Haben Sie Kinder?«, wird der Vater gefragt. »Nein, ich habe zwei Mädchen«, antwortet er. – Diese Szene ist eine der ersten Erinnerungen einer Frau, die um 1960 in gutbürgerlichen Verhältnissen in Rouen aufwächst. Was folgt, ist ein Leben, wie es exemplarisch scheint für ihre Generation: Laurence befreit sich aus der Enge des Elternhauses, erlebt sexuelle Freiheit, aber auch Gewalt, sie verliert einen Sohn bei der Geburt und bringt eine Tochter zur Welt. Und mit dieser Tochter, die sich allen Rollenzuschreibungen entzieht, öffnet sich etwas – auch für Laurence und ihr Leben als Frau. Aus dem Besonderen eines Frauenschicksals leitet dieser klug konstruierte Roman ab, was im Allgemeinen folgt, nachdem es heißt: »Es ist ein Mädchen.«Kaufen
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Kurzmeinung: Lesenswert. Bietet reichlich Stoff zur Diskussion.
In diesem Roman beschreibt die Autorin, was einer weiblichen Person so alles an Schmach und Benachteiligung/en geschehen kann. Als Laurence Charpentier, geborene Barraqué, zur Welt kommt und mit den Worten empfangen wird „Es ist ein Mädchen“ hört sich das für sie in der Rückschau genau so an wie „es ist n u r ein Mädchen.“ Laurence ist die Erzählerin. Ihr Vater hat sich einen Jungen gewünscht. Dass sie „nur“ ein Mädchen ist, wird sie von ihm ihr ganzes Leben lang zu spüren bekommen. Nie ganz offen, das Ressentiment wird nie zugegeben, häufig nur subtil vermittelt, ist aber vom Ergebnis her immer negativ zu deuten.
In der Rückschau fällt es der Protagonistin wie Schuppen vor den Augen und sie beginnt, die kleinen, aber verräterischen Anzeichen für die Herabwürdigung ihres Geschlechts zu begreifen, unglaublich, wie früh es gewesen ist, dass sie Nachteile psychischer wie physischer Natur hat erleben müssen. Das Mantra ihres Lebens ist der Satz gewesen, „mach dich nicht interessant“, den die Umgebung, Papa voran, ihr eingebläut haben. Leider hat sie diesen Satz (und andere) tatsächlich verinnerlicht und eine Rebellion gegen Papa, die dringend hätte stattfinden müssen, findet nicht statt. Im Gegenteil, noch als sie selber Kinder bekommt, versucht sie, ihrem Vater zu gefallen. Wo war Mama?
Der Kommentar:
Die Idee, eine Figur zu schaffen, an die man einfach wie an einen Kleiderständer alle Benachteiligungen hängt, die Frauen treffen können, so dass Laurence mehr als Platzhalter fungiert denn als echte, lebendige Person, sagt mir zu. In der einen oder der anderen Form ist es jeder Frau begegnet, dass sie sich entweder verbiegen muss oder um etwas kämpfen, was den männlichen Kollegen in den Schoß fällt. Frau muss sich doppelt anstrengen; Erziehung zur Demut. Zur Unterordnung. Weiblicher Schmerz ist nicht wichtig. Stell dich nicht an. Ist doch nicht schlimm oder sogar ein Affront für den männlichen Part in der Beziehung. Ah, es lassen sich noch mehr Bücher füllen mit allen Ungerechtigkeiten, die Frauen allein ihres Geschlechts wegen, erleiden.
Die Idee, den Fokus dabei auf die weibliche Sexualität zu legen, vom Erwachen erster sexueller Regungen an über die Aufklärung, wenig feinfühlig vom Medizinerpapa vorgenommen – aber immerhin – „in der Hochzeitsnacht muss der Ehemann wissen, was zu tun ist, das ist normal, die Frau muss einfach machen lassen“, mit anderen Worten, er darf herumvögeln, sie soll keusch bleiben. Noch Fragen? Nein. Die Idee, also, den Romanfokus auf die sexuelle Seite des Frauseins zu legen, ist zwar arg einseitig, aber gut, warum nicht einmal diese Seite heller beleuchten?
Laurence – als Platzhalter – bleibt wenig erspart. Missbrauch, häusliche Gewalt, Verrat, Gefahr für Leib und Leben, von beruflichen Nachteilen nicht zu reden. Dass der Vorname Laurence fast identisch mit dem Nachnamen der Autorin ist, sollte man nicht überbewerten. Autofiktional nennt man ihre Schreibweise. Jede Frau findet sich irgendwo wieder, keine Frau erlebt alles.
Ich mag die flotte Schreibweise, sie ist manchmal kess. Und manchmal krass. Und ich mag die Komprimierung des Elends. Als Frau bleibt man nicht kalt beim Lesen, man ist empört und wird wütend. Aber auf wen? Warum konnte sich Laurence nicht früher emanzipieren? Sind die Zeiten heute wirklich anders? Es kommt darauf an, wo man lebt. Und was man für einen Vater (gehabt) hat. Aber darauf kommt es immer an. Darauf, wo man herkommt. In welche Familie man hineingeboren wird. Das ist mein einziger Kritikpunkt. Manches ist einfach Schicksal.
Mehrfache Perspektivwechsel und Zeitraffungen machen den Roman rund.
Fazit: In der Bewertung gibt es ein glattes sehr gut unter dem Gesichtspunkt, dass Laurence als Kunstfigur gesehen wird, an der ein Exempel statuiert werden soll.
Kategorie: Anspruchsvoller Roman.
Verlag: dtv 2022
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